Nach Sigmund Freud wäre "die Neurose als eine individuelle Religiosität, die
Religion als eine universelle Zwangsneurose" aufzufassen. Beide entspringen
unerhellten Schuldgefühlen. Religion und Neurose sind damit aber keineswegs
gleichgesetzt. So ist das Verhältnis der Religionen zueinander ein
wesentlich anderes als das der Neurosen beim Individuum. In der
Unterscheidung der Religionen geht nun Freud vom Judentum aus: dessen
abstrakte Gottesidee ließ "das Volk Israel alle Schicksalsschläge
überstehen"; sie verschmäht "Opfer und Zeremoniell" und fordert stattdessen
ein Leben "auf der Grundlage der Gesetze und der heiligen Texte". Das
Christentum erscheint demgegenüber als "eine kulturelle Regression": es
"hielt die Höhe der Vergeistigung nicht ein", übernahm magische Elemente und
stellte die Muttergottheit wieder her. Im Zentrum steht das vergöttlichte,
von Jesus verkörperte Selbstopfer, das schließlich auch ein bestimmtes
Verhältnis der Individuen zum Staat anbahnt: in der Identifikation mit dem
Gekreuzigten entwickelt das Subjekt ganz von sich aus und fallweise ohne
Rücksicht auf die Gesetze jene unbedingte Opferbereitschaft, die der
Souverän im Ausnahmezustand einfordert.
Soweit das Judentum die falsche Versöhnung verweigert, die Christentum und
Islam missionarisch im Selbstopfer als Erlösung und Eingang ins Paradies
verbreiten, hält es zugleich die Möglichkeit grundlegender Veränderung der
Gesellschaft offen. Darin erkennen dann Adorno und Horkheimer den
Unterschied dieser Religion zu den anderen: "Hoffnung knüpft sie einzig ans
Verbot, das Falsche als Gott anzurufen, das Endliche als das Unendliche, die
Lüge als Wahrheit."
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