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Religion als universelle Zwangsneurose

Über Vergeistigung im Judentum und Regression im Christentum

Vortrag von Gerhard Scheit

Wien, 27. 4. 2006 - NIG, Universitätsstr. 7, HS III

 

Nach Sigmund Freud wäre "die Neurose als eine individuelle Religiosität, die Religion als eine universelle Zwangsneurose" aufzufassen. Beide entspringen unerhellten Schuldgefühlen. Religion und Neurose sind damit aber keineswegs gleichgesetzt. So ist das Verhältnis der Religionen zueinander ein wesentlich anderes als das der Neurosen beim Individuum. In der Unterscheidung der Religionen geht nun Freud vom Judentum aus: dessen abstrakte Gottesidee ließ "das Volk Israel alle Schicksalsschläge überstehen"; sie verschmäht "Opfer und Zeremoniell" und fordert stattdessen ein Leben "auf der Grundlage der Gesetze und der heiligen Texte". Das Christentum erscheint demgegenüber als "eine kulturelle Regression": es "hielt die Höhe der Vergeistigung nicht ein", übernahm magische Elemente und stellte die Muttergottheit wieder her. Im Zentrum steht das vergöttlichte, von Jesus verkörperte Selbstopfer, das schließlich auch ein bestimmtes Verhältnis der Individuen zum Staat anbahnt: in der Identifikation mit dem Gekreuzigten entwickelt das Subjekt ganz von sich aus und fallweise ohne Rücksicht auf die Gesetze jene unbedingte Opferbereitschaft, die der Souverän im Ausnahmezustand einfordert.
Soweit das Judentum die falsche Versöhnung verweigert, die Christentum und Islam missionarisch im Selbstopfer als Erlösung und Eingang ins Paradies verbreiten, hält es zugleich die Möglichkeit grundlegender Veränderung der Gesellschaft offen. Darin erkennen dann Adorno und Horkheimer den Unterschied dieser Religion zu den anderen: "Hoffnung knüpft sie einzig ans Verbot, das Falsche als Gott anzurufen, das Endliche als das Unendliche, die Lüge als Wahrheit."

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