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Totale Vergleichbarkeit

Eine Kritik der bürgerlichen Subjektivität und der Menschenrechte

von Alex Gruber

(Streifzüge 2/1998)

 
Die Linke versteht sich traditionellerweise als Hüterin und Mahnerin der Menschenrechte. Forderungen wie "Gleiches Recht für alle" oder "Alle Menschen sind gleich" gelten dem sich als alternativ verstehenden Bewußtsein als Ehrensache. Es wird der Widerspruch zwischen traurigem Sein und utopischem Wollen beklagt und die konsequente Durchsetzung und Einhaltung der Menschenrechte gefordert. Deren Nichteinhaltung dient diesen "KritikerInnen" als Fallbeispiel für einen rechtlosen Zustand, der nach der Anwendung des zuständigen Menschenrechts verlangt, also ein Ruf nach Rechtsschutz ist. Wer die Verletzung von Gesetzen beklagt und ihre Einhaltung einfordert, wendet sich notwendig an einen staatlichen Souverän, der in der Lage ist, den gewünschten Rechtszustand wiederherzustellen.
Die (meisten) modernen Protestbewegungen traten und treten mit dem Ziel an, die Versprechungen der bürgerlichen Revolution zu verwirklichen und die bürgerlichen Ideale der Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit/Schwesterlichkeit gesellschaftspraktisch zu bewahrheiten. Bereits 1940 notierte Max Horkheimer: "Die Sozialisten vertraten gegen das Bürgertum dessen eigene fortgeschrittene Phase und strebten schließlich eine bessere Regierung an." Die Konstitution der kapitalistischen Vergesellschaftung jedoch läßt Bewegungen, die auf die Gleichheit aller Menschen drängen, d.h. die Verfassung des Staates gegen die momentanen Zustände verwirklichen wollen und gegen Diskriminierung und Privilegierung kämpfen, zu Bewegungen im höheren Interesse des Staates werden. Das Ziel das sie erreichen wollen ist nichts als die Verwirklichung der staatlichen Verfassung, deren Verletzung nur auf nackte Willkür, angemaßte Macht und horrende Privilegien zurückgeführt werden. "Der Staat als solcher ist immer schon dort, wohin sich die Opposition gegen den Widerstand des Staates für sich, d. h. seiner jeweiligen Regierung, gerade aufmacht ... Unklar und zweideutig wird so, ob derlei Emanzipationsbewegungen in ihrem Kampf gegen Privilegierung und Diskriminierung nicht eigentlich zum Treibsatz jener Abstraktion werden, die die eigentümliche Verfassung und die durchschlagende Kraft moderner, d. h. kapitalistischer Herrschaft ausmacht."
Wie nachfolgend darzulegen versucht wird, gilt es also nicht, der bürgerlichen "Idee" der Gleichheit zu ihrem Recht zu verhelfen, sondern sie als das zu kritisieren, was sie ist: repressive Vergleichung; ungemütliche Unterwerfung unterschiedlicher Individuen unter ein und dieselbe Herrschaft und deren durch Gewalt gesetzte Ansprüche. Durch die "Idee" der Menschenrechte wird der gesellschaftlichen Realität im Namen von Werten gekontert, die nur formell das Gegenteil von Herrschaft und Ausbeutung, materiell aber deren ideologische Darstellung sind.

Das Kapital als "automatisches Subjekt"

Für die Einheit der kapitalistischen Welt ist die dem Geld zugrundeliegende Wertform konstitutiv, was bedeutet, daß sich alle Bedürfnisse, damit sie befriedigt werden können, wertförmig ausdrücken müssen. Die divergierenden Interessen der BürgerInnen werden in der Vermittlung durch die Wertform ausgeglichen. Dafür müssen sie in die existierenden ideologischen Formen gegossen werden, um überhaupt verwirklicht werden zu können. Die bürgerliche Welt synthetisiert sich also durch ein Drittes hindurch: das Transzendentalsubjekt Wert. Das Subjekt der Verhältnisse ist nicht "der Mensch", sondern das Kapital als einzig existierendes, automatisches und selbstreproduktives. Die Idee der bürgerlichen Subjektivität ist nichts "als soziale Halluzination der negativen Vergesellschaftung." Die Wahrheit der subjektivierten Individuen ist das Kapital als automatisches Subjekt, ihre Identität als Subjekte ist Resultat ihrer polit-ökonomischen Identifizierung als Objekte. Die Behauptung, daß die Menschen AutorInnen ihrer Vergesellschaftung seien, kann demnach nur negativ wahr sein, indem alle daran glauben und danach handeln. Damit setzen sich die Handelnden selber als Kapital, was noch tiefer in das Verhängnis führt, zur Verewigung des Kapitals.
Die Idee der Vergesellschaftung durch den Vertrag gehört zum Kern der Menschenrechte. Die wechselseitige Anerkennung als PrivateigentümerInnen und damit als Subjekte, die Voraussetzung des Vertrages ist, ist jedoch keine autonome Leistung der Individuen, sondern Resultat der ökonomischen Verhältnisse, also des kapitalistischen Akkumulationsprozesses, den die Individuen als Charaktermasken zu exekutieren haben. Da die Selbstverwertung des Geldes, die im Kapitalismus fetischistischer Selbstzweck ist, "nur in der Vermittlungsform des Marktes möglich ist, mußte (...) auch eine gleiche, 'egalitäre', diktatorisch ans Geld gefesselte Subjektform für alle Menschen ohne Ausnahme durchgesetzt werden." Die gegenseitige Anerkennung der KäuferInnen und VerkäuferInnen als freie Personen mit gleichen Rechten und Pflichten und die Garantie dieser Art Freiheit und Gleichheit durch den Staat sind die Voraussetzung für die politische Ökonomie des Kapitals.
Der Vertrag erzeugt den Konsens und die Identität der ihn Abschließenden nicht - wie seine bürgerlichen Theoretiker es weismachen wollen - er affimiert sie bloß. Die Gleichheit der Individuen als Subjekte gründet in der Gleichartigkeit aller Dinge als Waren, und dem/der BürgerIn kommen die Insignien der Subjektivität einzig als funktionierendes Glied der warenproduzierenden Gesellschaft zu. Die Individuen können sich miteinander als Subjekte wie durcheinander zu den Gegenständen ihrer Bedürfnisse nur über den Vertrag vermitteln, der ihre Identität als Vollstrecker des gleichen, freien und allgemeinen Willen bekundet. Dieser gleiche, freie und allgemeine Wille - die Akkumulation des Kapitals - ist jeder Setzung entzogen und jedem Vertrag vorausgesetzt, wodurch das Individuum als Subjekt immer schon gesellschaftlich vermittelt, d.h. kapitalistisch konstituiert ist. Der außerhalb des/der Einzelnen liegende "Wille" wird durch Rationalisierung zu individuellem Bewußtsein. Der/die Einzelne wiederholt "sein reelles Gesellschaftsleben (...) im Denken"; dabei wird dieses "Allgemeine" keineswegs gegenüber dem/der Einzelnen hypostasiert, es gilt vielmehr als "allgemeines individuelles Leben", der/die Einzelne selbst ist "Totalität, (...) ideale Totalität. (...) Denken und Sein sind also zwar unterschieden aber zugleich in Einheit zueinander. (...) Subjektivismus und Objektivismus (verlieren) (...) ihren Gegensatz und damit ihr Dasein als solche Gegensätze."
Der/die Einzelne erfährt den allgemeinen, freien und gleichen Willen also als "eigenen" und imaginiert sich zu einem bewußt handelnden Subjekt. Das Individuum ist bestrebt die zwar ganz und gar widersinnige, aber dennoch praktisch funktionierende Gleichsetzung der Gebrauchswerte durch die Wertform und dazu die Vergleichung der Menschen durch die Subjektform als Resultate seines Handelns und seines Willens sich einsichtig zu machen. Das Denken der Warentauschenden ist nichts als Ideologie, um der aus den gesellschaftlichen Verhältnissen stammenden Bedrohung des Selbstwertgefühls zu entgehen. In Notwehr wird die Charaktermaske mit Individualität belehnt und so die kapitalisierte Gesellschaft als "Konsensgesellschaft von Zwischenmenschen" imaginisiert. Der behauptete Gegensatz zwischen Individuum und Gesellschaft, der durch ersteres mittels Vertrag überbrückt werden müsse, ist objektiver Schein. "Das vereinzelte Individuum, das reine Subjekt der Selbsterhaltung, verkörpert im absoluten Gegensatz zur Gesellschaft deren innerstes Prinzip." Die Charaktermasken sind nichts als Funktionen der wertverwertenden Gesellschaft, ihr Bewußtsein nichts als der "Naturinstinkt von Warenbesitzern", die handeln bevor sie gedacht haben und nicht denken können, was sie da tun.
Die Integration in die bürgerliche Gesellschaft vollzieht sich also nicht als Vereinbarung freier Individuen, sondern vor dem Hintergrund dessen, daß es unmöglich ist, sich anders als in den Formen durch die hindurch das Kapital sich reproduziert auszudrücken. Die repressive Gleichheit aller wird hergestellt durch die Diktatur des Kapitals. Subjekt und BürgerIn wird erst, wer durch die gesellschaftlichen Zwänge hindurch gelernt hat, daß sich seine/ihre Entscheidungen im Rahmen der gesellschaftlichen Grundordnung bewegen müssen. Die Freiheit des/der Einzelnen reicht soweit, wie er/sie seine/ihre Bedürfnisse in Nachfrage übersetzen kann. Das bedeutet, daß die bürgerliche Souveränität eine scheinbare ist, die sich darauf beschränkt, zwischen OMO und Persil wählen zu dürfen. So bescheiden diese Souveränität auch sein mag, für den Einzelnen/die Einzelne hat sie "existentielle Dimension.
Entweder mitmachen, oder (sozialer) Tod."

Gleichheit als Erscheinungsform ihres Gegenteils

Der Staat ist die Institution, die über die Einheit der Gesellschaft wacht und die Zugehörigkeit der BürgerInnen zur überindividuellen Gemeinschaft verwaltungstechnisch regelt. Er ist der sinnlich-übersinnliche Funktionszusammenhang des gesellschaftlichen Prozesses, der die Individuen gesellschaftsfähig macht, indem er "die Vermittlung zwischen dem Individuum und seiner Subjektivität" darstellt. Er gewährleistet die Garantie der Egalität als gleichberechtigte und gleichermaßen verpflichtete BürgerInnen, was den Mensch des Menschenrechts zugleich zu Subjekt und Objekt des politischen Souveräns macht: Subjekt ist er als Citoyen, der im Staat und durch den Staat die allgemeinen Bedingungen seiner gesellschaftlichen Existenz geltend macht, indem er von seinen besonderen Bedürfnissen abzusehen hat, die ihn als Bourgeois und Objekt der Staatsgewalt ausmachen. Die Gleichheit vor dem Recht ist also gleichzeitg unkündbare Unterwerfung unter unableitbare Gewalt.
Die Allgemeinheit des Wertes ist nur in einem allgemeinen Äquivalent ausdrückbar, das aus der Warenwelt ausgeschlossen und zu Geld wird und damit zum Ausdruck von Wert an sich. Der Staat als nichtabgeleitetes Drittes garantiert das Geld und ist gleichzeitig darauf angewiesen. Im Anschluß an Backhaus ist also zu konstatieren, daß nicht nur eine prämonetäre Werttheorie unmöglich ist, sondern auch eine prästaatliche. Der Souverän ist die notwendig erscheinende Wertform des bürgerlichen Individuums, wie das Geld die notwendig erscheinende Wertform der Waren ist. "Zwischen Staat und Kapital kann daher ein Verhältnis der Ableitung nicht bestehen, vielmehr: Die Souveränität ist das politische Verhältnis des Kapitals, wie das Kapital nur das ökonomische Verhältnis der Souveränität ist." Die Herrschaft ist also Ableitung des Tausches wie das Geld Ableitung des Tausches ist, was aus der Perspektive der Tauschenden aber absolut undurchschaubar bleibt.
Die bürgerliche Gleichheit ist eine vor dem Geld, vor dem Gesetz und vor der Unterordnung unter den Zwang sein/ihr Leben verdienen zu müssen. Doch diese Gleichheit ist nur Erscheinungsform, die auf die Oberfläche des Tausches und des Vertrages beschränkt ist. Die allgemeine Subalternität vor unableitbarer staatlicher Gewalt stellt sich ebenso notwendig als Gesellschaftsvertrag der Egalitären dar, wie der Warentausch nur Erscheinungsform permanenter Aneignung und Akkumulation ist. Unter der Freiheit und Gleichheit des Tausches sitzt nämlich die Ausbeutung des Unterschiedes zwischen dem Tauschwert und dem Gebrauchswert der Ware Arbeitskraft. Die Einwilligung einer Person, die Fähigkeiten ihres Körpers einer anderen zur produktiven Benutzung abzutreten, genügt der Freiheit und Gleichheit einzig und allein im realen Schein des Tausches. Die Produktion jedoch läßt den Tauschwert der Arbeitskraft das eine sein und behandelt ihren Gebrauchswert, die mehrwertproduktive Potenz, als das ganz andere. Somit wird der gleiche Tausch zur Erscheinungsform seines Gegenteils, der gewaltförmig organisierten Aneignung der lebendigen Arbeitskraft durchs Kapital, welches ihren Wert nur bezahlt, um sich aus ihrem Gebrauchswert den Mehrwert anzueignen. Der bürgerliche Staat bezieht also, indem er das allgemeine Interesse aller freien und gleichen KonkurrentInnen am ordentlichen Verlauf der Konkurrenz wahrnimmt, Stellung gegen die, die nur ihre Arbeitskraft als Konkurrenzmittel besitzen; und nicht indem er ihnen Freiheit und Gleichheit vorenthält, die es im Anschluß daran zu realisieren gelte.

Die Realabstraktion des "Menschen an und für sich"

Die Menscherechte befassen sich nicht mit den Menschen wie sie gehen und stehen, sondern mit dem Menschen, wie er zu sein hat. IhrE AdressatIn erscheint als ein seiner/ihrer natürlichen und sozialen Beziehungen entkleidetes Wesen, als "Mensch an sich." Dieses Subjekt ist der Rest, der nach Abzug all dessen übrigbleibt, was die Individualität und Unverwechselbarkeit des/der Einzelnen ausmacht. Den Individuen ergeht es wie den Waren, nicht als spezifische Gebrauchswerte sind sie von Belang, sondern einzig nach Maßgabe ihre Wertcharakters: "Das Subjekt ist die Wertform des Individuums, die Form seiner konkreten Allgemeinheit und 'unmittelbaren Austauschbarkeit', seiner Gleichheit und totalen Vergleichbarkeit." Das Besondere ist nur insofern von Belang als es eben da sein muß, alle weiteren Qualitäten kommen ihm nur als Inkarnation des Allgemeinen zu. Das Subjekt ist bloßes Exemplar der Gattung Warenhüter.
Das Menschenrecht vollzieht die Spaltung zwischen besonderem und allgemeinem Menschen, es subsumiert die Menschen unter dem Begriff der Menschheit. Das bürgerliche Subjekt ist die diktatorische Setzung des spezifisch bürgerlich-kapitalen Wesens als unmittelbar allgemeines und begreift sich als manifeste Vergegenständlichung des Menschen an und für sich, neben dem nichts existieren kann und darf. Alles andere ist ihm bloß minderwertige Vorstufe der Menschheit. Schon die Urheber des Menschenrechts attestierten diesem, daß sie es nicht gemacht hätten, sondern daß es als Objektivität anerkannt werden müsse wie ein Naturgesetz und daß, wer sich ihm verweigert oder untauglich erweist und "nur seinem besonderen Willen gehorcht, der Feind der Menschheit (ist) ... (Er) verzichtet darauf Mensch zu sein und muß deshalb als entartetes Wesen behandelt werden." Die Menschenrechte sind also keineswegs freie Vereinbarung freier Individuen, sondern in Gestzestext gegossener, jeder Abstimmung entzogener Zwang zum Mitmachen.
Die Gleichheit des bürgerlichen Subjekts geschieht als Vergleichung der Individuen nach ganz anderen Kriterien als denen ihrer Sinnlichkeit und Empirie. Sie ist "repressive Egalität" und geht mit einer Subjektivität einher, "die sich im Zuge der historischen Entwicklung einer Gleichheit formiert, die einzig als autoritäre Vergleichung durch das Dritte von Kapital und Staat hindurch zu funktionieren vermag." Das Maß ihrer Gleichheit liegt also außerhalb der Individuen, und "der Mensch" ist das Humankapital zu dem sie verglichen werden.

Produktivierung der Gesellschaft

Die bürgerliche Subjektivität und damit der Inhalt der Menschenrechte beruht auf dem Zwang zur Selbstverwertung des Individuums, das durch und durch funktionalisiert wird und herrscht den Menschen die Verwertung des Kapitals als Zwangsjacke ihrer Selbsterhaltung auf. Die Egalität der Individuen ist eine der produktiven Subjekte, die nur gilt, wenn sie sich als funktionale Exemplare der kapitalisierten Gattung Mensch beweisen. Der empirische Mensch gilt nur dann als Subjekt, wenn er als sinnliche Darstellung des Transzendentalsubjekts fungiert; gelingt ihm dies nicht, ist sein Ausschluß aus der Menschheit nur noch Formsache. Die Berechtigung der Individuen als Subjekte - ihr Recht auf Selbsterhaltung - ist also nichts als ein anderer Name für ihre Verpflichtung und Beschlagnahme als Objekte durch das Kapital, und nur wenn das Subjekt es schafft, die individuelle Not der Reproduktion mit dem Zwang zur Kapitalakkumulation zu vermitteln, hat es Bestand.
Die bürgerliche Freiheit, die ihre Grenze an der Freiheit des/der Anderen findet, ist die "Freiheit des Menschen als isolierter auf sich zurückgezogener Monade." Sie "basiert nicht auf der Verbindung des Menschen mit dem Menschen, sondern vielmehr auf der Absonderung des Menschen vom Menschen" und "läßt jeden Menschen im andern Menschen nicht die Verwirklichung, sondern vielmehr die Schranke seiner Freiheit finden." Diese Freiheit ist die von Subjekten, die den wechselseitigen Ausschluß von den als Privateigentum gesetzten Produktionsmitteln nur mittels des Vertrages zu überwinden vermögen, und die sich darin als EigentümerInnen ihrer selbst betätigen und zugleich bestätigen. Die "freie Entfaltung" unterliegt dem Tausch von Äquivalenten, als der die Ausbeutung von Arbeitskraft gegen Lohn im Kapitalismus organisiert ist.
Die "unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte" basieren auf der staatlich garantierten Unverletzbarkeit eines jeden Rechtssubjekts, damit dieses sich als sein eigenes Humankapital behandeln kann.
Abbé de Sièyes, der Vordenker der revolutionären Verfassung, definiert dieses Recht folgendermaßen: "Der Mensch ist alleiniger Eigentümer seiner Person. Dieses Recht ist unveräußerlich." Er macht damit klar, daß dieses Recht eine nicht zu hinterfragende Pflicht ist: Jedes Individuum hat sich zu sich selber als Privateigentum zu verhalten, es hat sich selbst als seine ursprüngliche Ware zu denken und seinen Körper als Werkzeug und Arbeitskraftbehälter zu begreifen, den die kapitale Gesellschaft ihm leihweise zur Verfügung stellt. Doch die Subjektform ist lediglich Bedingung und keineswegs Recht der produktiven Verwertung des unter ihr befaßten Individuums. Sie garantiert den kapitalproduktiven Gebrauch des Individuums nicht, obwohl sie es dafür zurichtet; ob es zum Subjekt geeignet ist, bleibt seine Privatangelegenheit. Die Möglichkeit zur produktiven Verwertung ist nicht zuletzt davon abhängig, ob das Individuum in der Lage ist, sich als Eigentümer seiner selbst zu denken, d. h. "mit der Reflexion der Ware in sich selbst umzugehen (...) Die Abstraktion, die am Individuum vorgenommen wird, muß es noch einmal in sich selbst vornehmen." In der Subjektform ist das Individuum nicht Herr seiner Selbst, sondern lebendige Darstellung der Selbstverwertung des Werts. Es hat also nicht an sich selbst Gehalt, sondern einzig im Vollzug seiner Funktion: Charaktermaske, des sich durch den Tausch hindurch verwertenden Kapitals zu sein. Die Gesellschaft der Menschenrechte ist eine durch und durch produktivierte, aus der alles ausgeschlossen wird was dieser Produktivierung (scheinbar) nicht genügt.

Subjekt der Menschenrechte und Ideologie der "nationalen Identität"

Die Gleichheit des Menschenrechts ist eine lediglich formale. Da sich das bürgerliche Prinzip auf Gleichheit und Konkurrenz gründet, geht es materiell darum, zu den SiegerInnen zu gehören, also Ungleichheit herzustellen. Dem Individuum steht demnach ständig die Drohung vor Augen, zu den Verlierern zu gehören und zum Kreislauf des Warenverkehrs nicht mehr dazuzugehören. Im Anschluß daran wird alles, was die bürgerliche Subjektivität, also die Selbstverwertung, bedroht, aus dem Subjekt ausgeschlossen und zum Anti-Subjekt fingiert. "Die bürgerliche Angst vor dem Chaos produziert sich den absoluten Feind, um daran ex negativo die kapitale Synthesis zu stabilisieren." Dieser Feind ist das imaginäre Wesen in das alles, was dem bürgerlichen Verstand als das "Böse", "Fremde" und "Andersartige" gilt, hineinprojiziert wird, und aus dessen Bekämpfung das Subjekt seine Identität bezieht. Diese kann demnach nicht positiv sein, sondern nur negativ und gewalttätig, indem sie Nichtdazughöriges konstruiert und verfolgt.
Dies gilt schon für das republikanische Konzept der Nation, welches unterstellt freie Übereinkunft von Individuen zu sein, die ihre Interessen gemeinsam regeln, also Staatsürger werden wollen. Der Ausdruck diese allgemeinen Willens ist laut Artikel 6 der Eklärung der Menschen- und Bürgerrechte das Gesetz, welches von sich behauptet das genaue Gegenteil von Zwang zu sein, nämlich die freie Übereinkunft bewußter Individuen. Diese wird jedoch unversehens zum unaufkündbaren Diktat und stellt sich als souveränes Kommando dar. Der Gesellschaftsvertrag, den doch jeder/jede mit jedem/jeder schließen sollte, enthält nämlich eine vorausgesetzte Generalklausel, die niemals zum Gegenstand des Abkommens zu werden vermag: den Staat. Das republikanische Staatsbürgerschaftskonzept des Vertrages - das ius soli - ist "lediglich ideologischer Widerschein eines bereits vollzogenen gewaltsamen Homogenisierungsprozesses der Bewohner einer bestimmten Gegend durch die sie beherrschende Staatsgewalt. Das bürgerliche Subjekt in seiner prekären Doppelgestalt als ein um sein privates Fortkommen besorgter Bourgeois und als der Vernunft und dem Gemeinwohl verpflichteter Citoyen ist von vornherein als National-Staatsbürger konstituiert, der seine Selbstdefinition nur durch Abgrenzung von denjenigen erreichen kann, die von anderen Staatsgewalten zu ihren Bürgern erklärt wurden. Die simple Tatsache der Grenzziehung wird ideologisch überhöht."
Der freie und gleiche Tausch, der das ius soli hervorbringt hat notwendig unfreie Voraussetzungen - die Unterwerfung unter den Souverän und den Zwang, Selbstreproduktion und Kapitalakkumulation vermitteln zu müssen - und ebenso notwendig ungleiche Ergebnisse, die dafür sorgen, daß die Subjekte sich nach dem ius sanguinis sehnen. Nur ein naturhaft-kollektives Kriterium für die StaatsbürgerInnenschaft enthebt das bürgerliche Subjekt der Angst, wegen ökonomischer Nutzlosigkeit aus dem Kollektiv ausgeschlossen zu werden. Es flüchtet sich aus der "Vertragsgesellschaft" in eine überindividuelle, "natürliche", a priori fetstehende Form der Vergesellschaftung. Gegen die Hierarchie der Konkurrenz konstituiert sich so die Nation als jenes Prinzip in der sich die Gleichheit als Ideologie wiederherstellt. "Nationale Identität ist der Name für einen Prozeß, in dem sich die durch das Kapital (Wertform) gestiftete, im Geld repräsentierte und vom Staat garantierte abstrakte Einheit kapitalistischer Reproduktion der Gesellschaft in 'konkrete' den Gefühlshaushalt des Bürgers zusammenhaltende Ordnung übersetzt." Sie ist die Maske vor der bürgerlichen Krankheit der "sozialen Nullität": "der ökonomisch organisierten und politisch verwalteten Nichtigkeit des Individuums", indem sie diese verschleiert. Weil der/die Einzelne für den Fortgang des kapitalistischen Akkumulationsprozesses vollkommen überflüssig ist giert er/sie nach unwiderrufbarer Identität, um die Angst vor dem Ausschluß aus der bürgerlichen Gesellschaft ein für alle mal zu bannen. Das bürgerliche Subjekt ist derart verfaßt, daß es Identität nicht an sich selbst gewinnen kann, sondern nur wenn seine abstrakte Allgemeinheit zur konkreten "Rasse" sich verdinglicht, also im Prozeß der ständigen Ausgrenzung "unterwertigen" und "überwertigen" Lebens - ersteres im Rassismus, letzteres im Antisemtismus.
Rassismus und Antisemitismus stellen also die barbarische Vollstreckung der bürgerlichen Selbsterhaltung dar und sind demnach tödliche Konsequenzen der Menschenrechte. Die Form Nation und ergo der Nationalismus ist als Konsequenz der in den Menschenrechten angelegten Homogenisierung zu begreifen. Der scheinbare Widerspruch zwischen dem Faschismus und den Menschenrechten ist also in Wahrheit eine ideologische Halluzination der bürgerlichen Öffentlichkeit und "diejenige Ordnung, die 1789 als fortschrittliche ihren Weg antrat, trug von Beginn an die Tendenz zum Nationalsozialismus in sich."

Schlußbemerkungen

Die Menschenrechte sind der ideologisch-politische Schein jener Abstraktion, die das Kapital an den Individuen vornimmt. Sie können also kein wie auch immer geartetes Mittel zur Herstellung der freien Assoziation freier Individuen sein, da Agitation in ihrem Namen in eines fällt, mit der Affirmation des Kapitals als des Prinzips abstrakter Verallgemeinerung und egalitärer Vergleichung. Radikale Gesellschaftskritik, die sich noch ernst nimmt, hat die egalitäre Vergleichung und die damit einhergehende Subjektivität zu kritisieren und durch Kritik den Gegenstand der Erklärung zugleich zu zerstören. Sie hat die Antwort darauf zu sein, daß die gesellschaftlichen Individuen sich die Resultate ihrer Vergesellschaftung nicht als Resultate ihres eigenen Willens zurechnen können. Ihr muß es darum gehen, die Vermittlung von Sein und Bewußtsein zu blockieren und zu durchbrechen und so Spielraum zu schaffen, um die negative Vergesellschaftung zu erkennen, die die gesellschaftliche Überflüssigkeit des Individuums organisiert. Die arbeitsnotwendige, aber nicht beweisbare sondern nur hypothetische Unterstellung hierfür ist, daß die Objekte der Kritik, sich insgeheim nach subjektiver Urheberschaft ihrer eigenen Geschicke sehnen.
Dabei kann es nicht um die (Wieder)Herstellung des "wahren Menschen" gehen, sondern um die Kritik der Subsumierung der Menschen unter den Begriff des Menschen. Die Aufhebung des Kapitals hat das Individuum von der Subjektform zu emanzipieren und derart die Einheit der Vielen ohne Zwang zu ermöglichen. "Eine emanzipierte Gesellschaft (...) wäre kein Einheitsstaat, sondern die Verwirklichung des Allgemeinen in der Versöhnung der Differenzen. Politik, der es darum im Ernst noch ginge, sollte die abstrakte Gleichheit der Menschen nicht einmal als Idee propagieren."
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