>> blog        >> textarchiv         >> publikationen         >> audio        >> filme         >> kontakt         >> links [>>|]  
 
 

Das Judentum als Stellvertreter: Schostakowich

von Gerhard Scheit

(Zwischenwelt - Zeitschrift für Kultur des Exils und des Widerstands 3/2003)

 
Rezension von Dmitri Shostakovich and the Jewish Heritage in Music, hg. v. Ernst Kuhn, Berlin: Verlag Ernst Kuhn 2001 (Shostakovitch-Studien Bd.3), 354 S.

Es ist eine Frage, die sich jeder aufmerksame Hörer von Shostakowich' Musik bereits gestellt hat: Warum sucht dieser nichtjüdische russische Komponist geradezu kontinuierlich, musikalische Bezüge zum Judentum herzustellen?
Der vorliegende Sammelband bringt zahlreiche und ausführliche Antworten von Musikologen aus USA, England, Schweden, Deutschland, Israel und der Ukraine. Neben Beiträgen, die sich der allgemeinen Deutung der Fragestellung widmen (Kadja Grönke: "Für Judenfeinde bin ich wie ein Jud". Rollenmasken und Identifikationen in der Musik Dmitri Shostakowich'; Izaly Zemtovsky: Shostakowich und der Jiddischsmus in der Musik") stehen Aufsätze, die Einzelanalysen bringen (Dethlef Arnemann: Der jüdische Tanz in Shostakowich' Erstem Violinkonzert op 77 - ein Tanz gegen den Tod?; Gerhard Müller: Die Dreizehnte Symphonie) oder die Beziehungen Shostakovich' zu unbekannteren, jüdischen Komponisten behandeln bzw. vergleichende Studien ihrer Werke betreiben (Per Skans: Mieczyslaw Weinberg - ein bescheidener Kollege; Sigrid Neef: "Glory" oder "gorje" - Das jüdische Element in Shostakowish' Opern unter Einbeziehung von Flejschmans Oper Rothschilds Geige; Nelly Kravets: From The Jewish Folk Peotry of Shostakovich and Jewish Songs Op.17 of Weinberg: Music and Power). Weiters finden sich einige kleinere Texte von Shostakovitch selbst und ein Abdruck der "Anordnung Nr. 17" der Regierung der UdSSR über das Aufführungsverbot einzelner Musikwerke sowjetischer Komponisten von 1948.
Immer wieder tauchen zwei Namen auf: Chagall und Mahler. So schreibt Vladimir Zak, man verstehe "den russischen Realisten Shostakowich viel besser, wenn man sich die Kunst des jüdischen 'Märchenerzählers' Marc Chagall vor Augen hält." (S.56) Die Bemerkung trifft intuitiv die formale Problematik von Shostakowich' Musik - und wird von manchen Einzelanalysen des Bandes im Musikalischen indirekt bestätigt: Die Hinwendung zu bestimmten jüdischen Musiktraditionen erlaubte noch unmittelbare Einheit der Gestaltung und darin mitunter ungebrochene Aufnahme überkommener Ausdruckselemente, wie sie in der musikalischen Moderne fragwürdig geworden waren.
Aber bei dem jüdischen Maler, der assoziiert wird, handelt es sich um eine ebenso traumhafte wie utopisch gewordene Erinnerung an soziale, familiäre Bindungen der eigenen Herkunft, die in der Gegenwart surreale Formen annehmen kann; bei dem nicht-jüdischen Komponisten hingegen um Mittel musikalischer Identifikation, um einen letzten Halt angesichts eines immer repressiver werdenden Staats: der Surrealismus seiner Musik zwingt sich zur friedlichen Koexistenz mit dem sozialistischen Realismus.
Zak erinnert sich an den "gedankenvollen Hinweis" des Komponisten, "daß die Juden es schließlich gelernt hätten, Verzweiflung in ihren Tänzen zu sublimieren." (S.64) Darin liegt die Affinität, die sich an Shostakowich' Musik erkennen läßt: die eigene Verzweiflung über den Staat zu sublimieren, der sich immer mehr zum Gegenteil dessen entwickelte, was die Oktoberrevolution zu versprechen schien. Shostakowich, so Kadja Grönke, spricht "in der Phase zwischen 1948 und 1960 unter der Maske des Jüdischen vor allem von seinen Leiderfahrungen im Stalinismus (...)." (S.148) Da dieser Staat aber auch das reale Leben der Juden und Jüdinnen zunehmend bedrohte, indem er antisemitische Ressentiments der Bevölkerung zu nutzen versuchte, kann der sowjetische Komponist in der Sublimierung der eigenen Verzweiflung auch etwas von der Situation der Judentums in der Sowjetunion zum Ausdruck bringen: am deutlichsten in der Vertonung von Jewgenij Jewtushenkows Gedichten, darunter jenes über Babij Jar, in der Dreizehnten Symphonie.
In der Direktheit dieses Bezugs ist Shostakovich aber auch am weitesten entfernt von jenem Komponisten, dem er sich selbst so nahe fühlte: von Gustav Mahler. Während seine Musik die positive Identifikation mit dem Judentum sucht, um noch einmal Halt zu gewinnen und nicht ganz mit der vom Staat verordneten "Volkstümlichkeit" zu brechen, ließe sich die Eigenart von Mahlers Symphonik an der rückhaltlosen Form begreifen, mit der sie die Klischees des Jüdischen zitiert und darin die falsche Versöhnung der Volkstümlichkeit vor den Kopf stößt. Sie sei "zersetzend", wurde ihr von den Antisemiten immer nachgesagt, und wirklich: deren Bewußtsein zu zersetzen ist nicht das geringste ihrer Verdienste. Sie macht jenes Jüdische zur eigenen Sache, das den Sadismus reizt, sagt Adorno: Ihr jüdisches Element weicht zwar "vor der Identifizierung zurück", bleibt aber "dem Ganzen unverlierbar".
Dieser Unterschied kommt in der Parallelführung der beiden Komponisten zu wenig zum Ausdruck - etwa in Timothy L. Jacksons Beitrag: A Contribution to the Musical Poetics of Dmitri Shostakovich. Das Werk des sowjetischen Komponisten erscheint vielfach als direkte Fortsetzung des Mahlerschen. Gerade die Deutlichkeit, mit der sich Shostakowich auf das Judentum als "Rollenmaske" bezieht, bringt aber die Musik immer wieder in die Nähe bloßer Folklore, schützte ihn so auch vor dem gleichlautenden Vorwurf stalinistischer Funktionäre, zersetzend zu sein. Mitunter ließe sich aus ihr das Konzept heraushören, wie es Lenin für das Zusammenleben der Völker innerhalb des sozialistischen Staats vorgegeben hatte und das nicht verwirklicht wurde: friedlich vereint, finden sich Anklänge an Mussorgsky und russische Volksmusik mit solchen an spezifisch jüdische Musiktraditionen. Noch in der politisch bewundernswerten Solidarität mit dem Judentum überwindet diese Musik nicht ihre eigene ästhetische Problematik: die Anpassung an die staatlich anerkannte Kultur, die über die Wirklichkeit hinwegtäuscht. Während die Mahlers, der vielleicht an einigen Stellen Einflüsse synagogaler oder profan-jüdischer Musiktraditionen nachgewiesen werden können, etwas von dem Verborgenen, das abgespalten und verschoben in die antisemitischen Projektionen eingegangen ist, in den Konzertsaal zurückholt und damit das Bewußtsein konfrontiert, das gerade an diesem Ort sich sicher glaubt.
Umso schwerer wiegt, daß in den Beiträgen auf eine Konfrontation mit dem Weg, den Arnold Schönberg in der Nachfolge Mahlers gegangen ist, ganz verzichtet wird. Schönbergs bewußte Hinwendung zum Judentum seit den dreißiger Jahren und die ganz neue Verbindung von Judentum und Musik, die daraus folgte, wäre als unverzichtbarer Referenzpunkt einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Thema zu betrachten. Die Spannungsverhältnisse innerhalb der musikalischen Moderne werden jedoch weitgehend ausgeblendet. Das Werk des russischen Komponisten wird in jener Isolation dargestellt, in der es selbst durch die Abschottung der sowjetischen Kulturpolitik einmal entstanden ist und gewirkt hat. So weist noch der Titel des Sammelbands mit dem Begriff des "musikalischen Erbes" unfreiwillig zurück auf die Paradigmen realsozialistischer Kunstbetrachtung.
Dennoch sind mit diesem Band allein durch die Fülle des Materials und die Vielfalt seiner Analysen endlich die Voraussetzungen geschaffen für eine kritische Arbeit zur Stellung und Bedeutung des Judentums im Werk von Dmitri Shostakowich.
[DOC][PDF][|<<]