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Eine deutsche Rechtslehre

Über den Antisemiten Carl Schmitt.

von Gerhard Scheit

(konkret 2/2002)

 
Ein neues Buch zeigt zum ersten Mal das ganze Ausmaß und die Intensität des Antisemitismus im politischen Denken Carl Schmitts.
Es geht um den Kern der deutschen Rechtslehre. Die Studie von Raphael Gross über Carl Schmitt und die Juden widerlegt die apologetische Schmitt-Rezeption, die immer behauptet hat, es handle sich bei den antisemitischen Äußerungen des Staatsrechtlers lediglich um eine partielle Anpassung an den NS-Staat. Vor 1933 ist der antisemitische Kern allerdings durchaus noch verborgen: Souveränität, Entscheidung und Ausnahmezustand - so lautet die "wertfreie" Terminologie, die später in "deutsches Blut", "dämonische Entartung" und "volkhafte Großraumordnung" übersetzt werden sollte. Aber ähnlich wie bei Heidegger ist es die Bezugnahme auf "Volk" und "Opfer", die von Anfang an diese Substantialisierung impliziert: "Die politische Einheit muß gegebenenfalls das Opfer des Lebens verlangen", heißt es 1932.
Auf welche Weise, durch welches Opfer, das Volk "sich auf sich selber und seinesgleichen" besinnen könne, wird bald nach 1933 deutlich. Es ist, so Schmitt, "eine erkenntnistheoretische Wahrheit, daß nur derjenige imstande ist, Tatsachen richtig zu sehen, Aussagen richtig zu hören, Worte richtig zu verstehen und Eindrücke von Menschen und Dingen richtig zu bewerten, der in einer seinsmäßigen, artbestimmten Weise an der rechtschöpferischen Gemeinschaft teilhat und existentiell ihr zugehört." Die Gleichartigen erkennen sich nur durch Andersartige, die Gemeinschaft schließt sich nur durch deren Ausschluß zusammen.
Die "Dezision", der persönliche Befehl, war bereits früher Schmitts Antwort auf das allgemein geltende, "entpersonalisierte" Gesetz gewesen. Nun aber, da die Entscheidung in Deutschland wirklich gefallen ist, stellt er das konkrete wahre Recht des deutschen Volks als "Nomos" dem falschen abstrakten Gesetz der Juden entgegen. Denn das jüdische Gesetz sei aufgrund des Fehlens von konkreter persönlicher Autorität und Opferbereitschaft nicht in der Lage, eine politische Form zu schaffen.
"Nomos" ist also nur eine bildungsbürgerliche Umschreibung der "Nürnberger Gesetze": das jüdische Gesetz der abstrakten Gleichheit aller Staatsbürger (dessen Gesetzgeber sich in einer für immer unerreichbaren Sphäre befindet, auf ewig abwesend bleiben wird) sei durch ein konkretes "Rassengesetz" der Ungleichheit zu ersetzen (das vom Führer gebracht und geschützt wird). Es geht darum, dem abstrakten jüdischen Universalismus und der Herrschaft des Gesetzes einen konkreten erscheinenden Gott und die "Herrschaft des Menschen" entgegenzustellen - und der Katholik Schmitt fühlt sich berufen, die Wiederkehr von Gottes Sohn in der Gestalt des Führers zu kodifizieren. (Wie heute Slavoj Zizek sieht er in der katholischen Kirche ein positives Vorbild für eine politische Form, im kanonischen Recht ein Paradigma für prägnante Begrifflichkeit.) Sehr schlüssig macht Raphael Gross hier an der Entwicklung der nationalsozialistischen Rechtsprechung deutlich, wie fließend die Übergänge zwischen religiösem Antijudaismus und rassistischem Antisemitismus sind, wie sehr beide in Theorie und Praxis der Verfolgung sich wechselseitig ergänzen.
Nachdem Schmitt 1935 die "Nürnberger Gesetze" als "Die Verfassung der Freiheit" kommentiert hatte, wobei die "Stimme des deutschen Blutes" endgültig das entscheidende Kriterium der Rechtslehre geworden ist, erreicht das antisemitische Engagement seinen Höhepunkt in der von ihm organisierten Tagung der "Reichsgruppe Hochschullehrer des Nationalsozialistischen Rechtswahrerverbundes" im Oktober 1936. Hier wird eine geistige Rampe errichtet, an der etwa genau entschieden werden soll, wer nur fremd, eine fremde Rasse, ist - und wer darüber hinaus schlechthin anders, die Gegenrasse, ist. "Wenn wir dabei von Juden und Judentum sprechen, so meinen wir wirklich den Juden und nichts anderes ... Machen wir hier aus den Fremden einen Allgemeinbegriff, der unterschiedslos Artverwandte und Artfremde umfaßt, so kann die spezifisch jüdische Beeinflussung nicht mehr wissenschaftlich erkannt werden. Dann erscheint der Einfluß, den z.B. die italienische Musik auf unsere großen Musiker Händel, Bach und Mozart gehabt hat, in einer Reihe mit der jüdischen Infektion, die von Marx und Heine ausging." In der "Judenfrage" geht es immer ums Ganze: hier gibt es "überhaupt keine nebensächlichen Angelegenheiten mehr". Denn die Juden könnten sich überall verbergen: der "Maskenwechsel von dämonischer Hintergründigkeit" gehört zu ihrem Wesen, und diese "Virtuosität der Mimikry" ist "durch lange Übung noch gefördert" worden.
Spätere Schriften wie der Leviathan, die oftmals analog zu den Marmorklippen von Ernst Jünger oder Heideggers späten Vorlesungen als ein Werk des Rückzugs vom NS-Staat und seiner Ideologie interpretiert wurden, sind demgegenüber als bloße Neuorientierungen ganz im Sinne dieses Staats und seiner augenblicklichen Lage zu verstehen - und zwar in Richtung "nationalsozialistische Großraumtheorie", die nun der abstrakten universellen, bodenlosen Ordnung der Alliierten entgegengesetzt wird.
Nachdem aber diese "volkhafte Großraumordnung" zunächst einmal von den Alliierten verhindert worden ist, war für den "Kronjuristen des Dritten Reichs" an eine Rückkehr an die Universität nicht zu denken. In seinen Geburtsort Plettenberg sich zurückziehend, betrachtete er die Welt hinfort wie Heidegger von Todtnauberg aus - im insgeheimen Vertrauen darauf, daß letztlich doch die im Augenblick Besiegten gesiegt hätten, aber begleitet von unerträglichem Selbstmitleid: "Mir geschieht immer nur Unrecht ... Sie werfen uns den Emigranten zum Fraße hin ... Die Emigranten ... führen den gerechten Krieg, das Schauerlichste, was menschliche Rechthaberei erfunden hat ...". Der Verfolgungswahn, der hier dem Tagebuch anvertraut wird, geht nach wie vor mit der Identitätsbildung der deutschen Gesellschaft konform und erscheint heute aktueller denn je: "Als wir uns uneins wurden, haben die Juden sich subintroduziert. Solange das nicht begriffen ist, gibt es kein Heil ... Heute erleben diese Subintroduzierten eine Restauration mit kolossalen Entschädigungsansprüchen und Rückzahlungen."
Im Tagebuch auch vollendet sich unter den Bedingungen des Kalten Kriegs die christliche Identifikation: "Die meisten wahrhaft Armen sind nicht Volkskommissare geworden; sie wurden von den Ausbeutern des Volkes gehenkt, unter dem Applaus der Armen. So geschah es mit Jesus Christus, und ich hoffe, daß dies auch mich erwartet."

Die Banalität des Staates

Raphael Gross führt den Nachweis, daß eine Herauslösung der politischen Theorie Carl Schmitts aus ihrem rassistischen und antisemitischen Kontext nicht möglich ist, und schließt daraus, daß auch berühmte Begriffe der frühen Schriften wie jener der Souveränität nur "provozierende Scheinklarheit" vermitteln. Das Buch liest sich in dieser Hinsicht wie eine notwendige Ergänzung zu Wolfgang Pohrts Artikel anläßlich des 100. Geburtstags von Schmitt, worin von der "Banalität" dieses politischen Denkers die Rede ist (konkret 8/88). In der (nicht zuletzt von ehemaligen deutschen Maoisten) vielbewunderten Prägnanz der Schmittschen Schriften konnte Pohrt nichts als einen "agitatorischen Trick" sehen, "eine durch Banalität überzeugende Behauptung wie eine messerscharfe Schlußfolgerung aussehen zu lassen ... Denkschrott als erlesene Kostbarkeit zu präsentieren, die Kapitulation des Verstandes als Produkt tieferer Einsicht ..."
Aber es handelt sich hier um die Banalität des Staates selber, die darum so originell erscheinen konnte, weil sie in Vergessenheit geraten war. Die ganze Brillanz der frühen Schriften Schmitts, die Intellektuelle wie Walter Benjamin, Otto Kirchheimer und Franz Neumann so sehr beeindruckte, war nur möglich vor dem Hintergrund einer in sozialdemokratischer und liberalistischer Tradition hartnäckig und nachhaltig eingeübten Verdrängung dessen, was den Staat ausmacht. "Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet." So lautet der erste Satz der Politischen Theologie von 1922 - geschrieben also, nachdem in Deutschland ebenso wie in Rußland über den Ausnahmezustand fürs erste entschieden worden war. Im Unterschied zu Lenin, der hierüber jederzeit Klarheit besaß, wehrten die Demokraten in Deutschland und Deutschösterreich diese Fragestellung ab. "Einer muß den Bluthund machen" - ein anderer aber das Schoßhündchen: Es ist Aufgabe der demokratischen Ideologie, die konstituierende Bedeutung der Gewalt in der Demokratie, die Noske ausgeplaudert hat, wieder auszublenden.
Am konsequentesten unter ihnen erscheint Hans Kelsen, der doch selbst als persönlicher Referent des habsburgischen Kriegsministers im Ersten Weltkrieg dem Bluthund in Aktion eine Zeitlang zur Seite gestanden hatte; er sagt offen: "Der Souveränitätsbegriff muß radikal verdrängt werden." Raphael Gross rekonstruiert die Kontroverse dieses prominentesten Verfechters einer radikal antimetaphysischen Staatslehre mit dem politischen Theologen Schmitt. Kelsen, der von Schmitt schließlich als Hauptvertreter, ja als Inkarnation des abstrakten jüdischen Gesetzes angegriffen wurde, wollte nicht wie Marx den Staat abschaffen, sondern wegdenken: er behandelt ihn wie Religion, wie die Gottesvorstellung - d.h. er sieht vom Gewaltmonopol einfach ab. Die Omnipotenz Gottes findet in der Souveränität des Staates ihre Entsprechung, daraus folgert Kelsen: die Souveränität existiert nur, wenn man an sie glaubt. Die Hypostasierungen Gottes und des Staates wären also bloß in ihre individual-psychologischen Elemente aufzulösen, und schon wäre der Staat zur Vernunft geworden, Herrschaft rationalisiert, die Welt zu ihrem Besten vollständig entzaubert. "Die reine Rechtstheorie vom Staat ist", so Gross, "eine 'Staatslehre ohne Staat'. Ensprechend ist der Souverän nicht als Substanz - und zwar weder als Person noch als Mythos -, sondern als eine Funktion vorzustellen." Der Staat, das heißt die Rechtsordnung, ist ein System von Zurechnungen auf einen letzten Zurechnungspunkt und eine letzte Grundnorm. Er ist also weder der Urheber noch die Quelle der Rechtsordnung; alle solche Vorstellungen sind nach Kelsen Personifikationen und Hypostasierungen, Verdoppelungen der einheitlichen und identischen Rechtsordnung zu verschiedenen Subjekten. Damit weist Kelsen allerdings auf die spezifische Form des Rechts hin, die im Begriff des Staats als Gewaltmonopol tatsächlich nicht aufgeht - es sei denn in der ideologischen Gestalt der Schmittschen Theologie -, sondern nur im Zusammenhang mit den Produktionsverhältnissen zu begreifen wäre, von denen aber Kelsen wiederum als Jurist abstrahiert.
"Das demokratische Modell", dem sich Kelsen verpflichtet weiß, "muß sich immer wieder für den Gottesmord entscheiden, weil es politisch und nicht religiös entworfen ist. Aus dem Grund kann es absolute Wahrheiten nicht geben." Aber daß es eine absolute Wahrheit nicht geben kann, beansprucht selbst, absolute Wahrheit zu sein - so wie der ermordete Gott stets mit seiner Rückkehr drohen muß, damit die Demokratie funktionieren kann. Davon aber will weder Kelsen, der 1933 nach Genf, 1940 in die USA flüchtete, noch Gross, der an Kelsens Position weitgehend anknüpft, etwas wissen.
Mit seinem erstaunlichen Gespür, daß der nächste Ausnahmezustand naht, erkennt Carl Schmitt sofort die Schwächen von Kelsens "reiner Rechtslehre", die Metaphysik bloß abwehrt. Darin ist Schmitt als Theoretiker von Anfang an mit Hitler verwandt, der im Praktischen die verwundbaren Stellen der Weimarer Ordnung schlagartig erfaßt hat. Mit Hobbes Leviathan hält er Kelsen entgegen: "Autoritas, non veritas facit legem"; die Autorität beweise, "daß sie, um Recht zu schaffen, nicht Recht zu haben braucht"; die Rechtsidee könne sich "nicht aus sich selbst umsetzen". Denn in der entscheidenden Situation gehe es nicht um Begriffe, sondern um die "konkrete Anwendung"; darum, "wer im Konfliktsfall entscheidet, worin das öfffentliche oder staatliche Interesse, die öffentliche Sicherheit und Ordnung, le salut public usw. besteht.
Der Ausnahmefall, der in der geltenden Rechtsordnung nicht umschriebene Fall, kann höchstens als Fall äußerster Not, Gefährdung der Existenz des Staates oder dergleichen bezeichnet, nicht aber tatbestandsmäßig umschrieben werden ... Es kann weder mit subsumierbarer Klarheit angegeben werden, wann ein Notfall vorliegt, noch kann inhaltlich aufgezählt werden, was in einem solchen Fall geschehen darf ..." Der Souverän aber "entscheidet sowohl darüber, ob der extreme Notfall vorliegt, als auch darüber, was geschehen soll, um ihn zu beseitigen. Er steht außerhalb der normal geltenden Rechtsordnung und gehört doch zu ihr, denn er ist zuständig für die Entscheidung, ob die Verfassung in toto suspendiert werden kann." Die Tendenzen der modernen rechtsstaatlichen Entwicklung wollen aber scheinbar den Souverän in diesem Sinne beseitigen, ihn mit der normal geltenden Rechtsordnung selbst vollkommen identisch machen, so daß von ihm nichts mehr außerhalb von ihr übrigbleibt. "Aber ob der extreme Ausnahmefall wirklich aus der Welt geschafft werden kann oder nicht, das ist keine juristische Frage."
Genau hier - wo eigentlich die Form der Gesellschaft zur Debatte steht - bricht Schmitt die Reflexion, die fast dialektisches Denken berührt hat (der Souverän "steht außerhalb der normal geltenden Rechtsordnung und gehört doch zu ihr"), ganz bewußt ab, um sie weltanschaulich zu revozieren: Ob man das Vertrauen und die Hoffnung hat, der Ausnahmezustand lasse sich tatsächlich beseitigen, hängt "von philosophischen, insbesondere geschichtsphilosophischen oder metaphysischen Überzeugungen ab." Und was diese Überzeugungen betrifft, hat Schmitt sich längst entschieden - indem er dieselben nämlich nicht auf ihren gesellschaftlichen Charakter durchsichtig machen möchte.

Demokratie und Volksgemeinschaft

Durch die minutiöse Darstellung von Raphael Gross wird aber vor allem klar, daß Schmitt nur durch die Weimarer Republik hindurch zum Nationalsozialisten werden konnte; daß er, wie Gross schreibt, "die Idee der Nation und den unumkehrbaren Legitimitätswechsel vom Gottesgnadentum zur Volkssouveränität resp. vom monarchischen zum demokratischen Legitimitätsgedanken akzeptierte" - und darüber erst den Weg zum Nationalsozialismus fand.
Als demokratischer Initiator dieser Entwicklung erscheint Max Weber, der bereits im Ersten Weltkrieg forderte, die Volksmasse als "Mitherren des Staates in diesen einzugliedern", und im Unterschied zu Kelsen auch den Ausnahmezustand und die Frage der Souveränität nicht einfach verdrängen konnte: "Die wirkliche Herrschaftsstruktur bestimmt sich nach der Beantwortung der Frage: was geschehen würde, wenn ein satzungsmäßig unentbehrlicher Kompromiß (z.B. über das Budget) nicht zustandekäme." Schmitt formulierte die Frage dann nicht mehr so "wertfrei", substantialisierte sie vielmehr schrittweise, wodurch er die "entzauberte Welt" realer Abstraktion schließlich mit den Scheinkonkretheiten der "Rasse" - mit "deutschem Blut" und "dämonischer Entartung" - neu verzaubern konnte. (Am Scheitelpunkt zwischen Weber und Schmitt findet sich Werner Sombart, der bereits den "jüdischen Rationalismus" - statt Webers "protestantischer Ethik" - als Urheber des "kapitalistischen Geistes" ausmachen wollte. Allerdings erweist sich die "Wertfreiheit" Webers bereits als doppelbödig, war er doch selbst geneigt, zwischen "bestimmten Arten von Rationalisierungen" und "Erbqualitäten" einen Zusammenhang anzunehmen.)
Wer die Souverenität ausfüllt, das wird auch von Schmitt Anfang der zwanziger Jahre noch wertfrei offengelassen: ob nun "Gott souverän ist, das heißt derjenige, der in der irdischen Wirklichkeit widerspruchslos als sein Vertreter handelt, oder der Kaiser oder der Landesherr oder das Volk, das heißt diejenigen, die sich widerspruchslos mit dem Volk identifizieren dürfen ..." Und doch ist der Übergang zum NS-Staat schon mit Händen zu greifen: die Volksgemeinschaft als Souverän konstituiert sich darin, daß sie diejenigen identifiziert, die sich nicht mit ihr identifizieren dürfen.
Wenn Schmitt die Kelsensche Jurisprudenz "als die Ideologie des bei wechselnden politischen Verhältnissen arbeitenden juristischen Bürokraten" betrachtet, "der unter den verschiedensten Herrschaftsformen, mit relativistischer Überlegenheit über die jeweilige politische Macht, die ihm zugeworfenen positiven Anordnungen und Bestimmungen systematisch zu verarbeiten sucht", so kann umgekehrt seine eigene politische Theologie als die Ideologie des unter den verschärften Bedingungen der Krise die Entscheidung erwartenden Akademiker-Nachwuchses verstanden werden - eine Ideologie, die es erlaubt, in den Apparat z.T. gewaltsam einzudringen und die alte Bürokratie zu beseitigen oder zurückzudrängen, um den Staat selbst auf den Vernichtungskrieg umzustellen. Kelsen ist der Apologet des stummen Zwangs der Verhältnisse, Schmitt ist der Apolget der offenen Gewalt.
So ist die Schmittsche "Klarheit" mehr als nur "Scheinklarheit". Sie ist klar im selben Maß, als sie den nächsten politischen Schritt, der im Sinne der Erhaltung von Staat und Kapital möglich ist, vorzeichnet. Anders die gedankliche Konsequenz in Kelsens reiner Rechtslehre. Sie verwischt die drohende Gewalt, je größer die Krise wird.
Kelsen phantasiert einen Staat ohne Krise, einen Staat, der nicht auf der Möglichkeit der Krise beruht, recht eigentlich einen Rechtsstaat ohne Staat, analog zu den Phantasien einer "einfachen Warenproduktion", einer Warenproduktion ohne Kapital. An einer Stelle wird der historische Zusammenhang dieser Ideologie unmittelbar deutlich - und Raphael Gross kann solcher Relativierung des Relativismus nicht widersprechen: eine antimetaphysische Staatslehre könne "nur in Epochen sozialen Gleichgewichts gedeihen."

Raphael Gross: Carl Schmitt und die Juden. Eine deutsche Rechtslehre. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000. 442 S.
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