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Das regressive Bedürfnis

Zur Kulturkritik des (Multi-)Kulturalismus

 

Ein Film über zwei palästinensische Selbstmordattentäter und einer über eine deutsche Widerstandskämpferin waren die großen Erfolge der diesjährigen Berlinale. Der erste, "Paradise Now", erinnert nicht nur im Titel an "Apocalypse Now", er ist ebenso ambivalent in der Bewertung des Agierens seiner Akteure. Während aber die Friedensbewegung dem Hollywoodfilm Anfang der achtziger Jahre wegen dessen exzessiver Gewaltdarstellung Kriegsverherrlichung vorwarf, haben die gleichen Leute heute gegen "Paradise Now" keine Einwände. Die Vorbereitung einer Massenmordaktion im Stile einer Soap opera - Tragisches und Komisches wechselt sich im Rhythmus der Erzählung ab - ist erfolgreich, weil die europäischen Zuschauer sich mit den Protagonisten identifizieren können. Die zu ermordenden Juden tauchen nur in der Ferne auf, sie bleiben Abstraktionen, die nichtsdestotrotz sehr konkret verantwortlich sind für das eigene Unglück. Bezeichnenderweise erhielt "Paradise Now" den Zuschauerpreis der Filmfestspiele sowie den "Blauen Engel", die einzige Auszeichnung die mit Geld, nämlich 25 000 Euro, dotiert ist. Das ist ungefähr die Summe, die Saddam Hussein den Familien der Suizidbomber zukommen ließ.
"Sophie Scholl - die letzten Tage" wird hingegen vor allem von der Kritik gelobt. Passend zum Jahr der sechzigsten Jahrestage wird Sophie Scholl, wie schon einmal in den fünfziger Jahren, als deutsche Märtyrerin dargestellt und der Widerstand als Passionsgeschichte, die "uns" noch einmal nachweist, wie gut "wir" geworden sind. Hatten ähnliche Filme einst ebenfalls Protest oder Unmut ausgelöst, weil sie in ihrer Personalisierung immer kitschig geraten, zumal wenn sie vom deutschen Widerstand handeln, und eine realitätsgerechte Darstellung der Form nach ausgeschlossen ist, wird "Sophie Scholl" für Mut zum Gefühl und Authentizität gepriesen - ebenso übrigens "Paradise Now".
Es gibt demnach ein Bedürfnis nach Märtyrern und Märtyrerinnen, das nicht zwischen Judenmördern und Widerstandskämpferinnen zu unterscheiden vermag, das beide Figuren identisch setzt, weil sie für ihre Überzeugung sterben. Da diese Überzeugungen aber gar keine Rolle spielen, ist es offensichtlich die Unterstellung - oder Projektion - eines Todeswunsches, der die Identität von Sophie Scholl und zwei palästinensischen Massenmördern herstellt. Beiseitegestellt, was den Mitgliedern der Weißen Rose damit angetan wird, denn sie hegten, im Gegensatz zu den Selbstmordattentätern, keineswegs einen Todeswunsch: beide Filme ermöglichen diese Projektion, ihre Figuren geraten zu Heiligen.
Das Bedürfnis nach Märtyrern, verstanden als projizierter Todeswunsch, verweist auf den derzeitigen mentalen Zustand des Mainstream, in dem aus einem Gefühl abstrakter Bedrohung heraus die Zugehörigkeit zu diesem oder jenem Zwangskollektiv eine immer größere Bedeutung gewinnt. Es ist die Frage nach der Identität, diesem unfreiwilligen Korsett aus Erbe und Herkunft, die man nicht auf der Suche nach Freiheit hinter sich lassen will, sondern die man sich solange stellt, bis sie eine positive Antwort erhält. Neidisch blickt man auf Menschen, von denen man meint, sie seien der Not der Identität enthoben, weil sie sich die Frage danach nicht zu stellen bräuchten. Diese entstammen zumeist sogenannten Kulturen, deren Mut zum Gefühl und Authentizität gefeiert wird.
Menschen wie Ayaan Hirsi Ali hingegen, die sich der allgemeinen Regression verweigern und deswegen gegen den politischen Islam kämpfen, eignen sich merkwürdigerweise, trotz erwiesenen Heldentums, so gar nicht als Märtyrer. Nicht nur, daß sie selbst eine solche Rolle ablehnen würden; Hirsi Ali zum Beispiel, die jederzeit mit ihrer Ermordung rechnen muß, wehrt sich gegen die Dekonstruktion ihrer Person in Identitäten. Sie will nicht als Verfolgte, Moslem, Somali, Frau usw., also mehrfach unterdrücktes Wesen gelten, sondern sie hat eine niederländische Staatsbürgerschaft und will beurteilt werden für das, was sie als Politikerin tut. Ayaan Hirsi Ali nahm am 18. Januar 2005 - nachdem sie nach der Ermordung Theo van Goghs untertauchen mußte - ihre parlamentarische Arbeit wieder auf und damit ihren Kampf für die Rechte moslemischer Frauen auf Bildung und eigenes Einkommen. Ihr unverminderter Widerstand gegen den von kulturrelativistischer Öffentlichkeit und islamistischen Gruppierungen gleichermaßen ausgeübten Zwang, ein moslemisches Kollektiv gefälligst konstruktiv zu kritisieren und ihren Platz als Quotenmigrantin einzunehmen, die von der Mehrheit "Akzeptanz kultureller Eigenheiten" fordert, ist vielleicht ein letztes Aufbäumen bürgerlicher Subjektivität (eine andere gibt es nicht) gegen die gesellschaftliche Regression. Damit ist er zugleich die Verteidigung der Bedingungen und Möglichkeiten zur Subjektwerdung gegen die Zumutungen des Ethnisierungszwangs sowie die Abwehr der mit diesem einhergehenden Vernichtungsdrohung. Nicht mehr und nicht weniger bedeutet Antifaschismus.
Daß Hirsi Ali nicht schon längst eine linke Ikone der Emanzipation wurde, liegt nicht daran, daß sie einer liberalen Partei angehört und sich selbst als bürgerliche Demokratin begreift; das hat die Linke noch nie von einer Liebeserklärung abgehalten. Es liegt auch nicht an einem antifeministischen Backlash, ist es doch die Feministin Anja Meulenbelt, die Hirsi Ali beschuldigt, einen "Anti-Moslem-Djihad" zu führen und so der moslemischen Bevölkerung der Niederlande zu schaden. Es liegt daran, daß Hirsi Ali in Gestalt des Islams bekämpft, wonach sich Meulenbelt und ihre Komplizinnen und Komplizen sehnen: der Befriedigung des Bedürfnisses nach Mut zum Gefühl und Authentizität, oder, in anderen Worten, des Bedürfnisses nach Regression.

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