>> blog        >> textarchiv         >> publikationen         >> audio        >> filme         >> kontakt         >> links [>>|]  
 
 

Vom Untergang ins Paradies

Cineastische Allianzen: Ganz Palästina wird zum Führerbunker.

von Tobias Ebbrecht und Ralf Schroeder

Erschienen auch in: Bahamas 47

 
"Authentizität"

Als vor gut zehn Jahren die Dänen Thomas Vinterberg und Lars von Trier das Dogma-Manifest veröffentlichten, wurde damit zugleich, wenn nicht in der Form, so doch im Anliegen, das Programm des "neuen" und engagierten europäischen Films formuliert. Die zehn Gebote dieses "Keuschheitsgelübdes" [1] mehr oder minder variierend, geht es vielen Filmemachern bis heute um ein Gemeinsames: Authentizität.

Diese ist nur als dramatisiertes Dogma, als Wille und Vorstellung von einer Welt zu verstehen, die man vorab und nicht mit den Mitteln der Kunst hinreichend erklärt zu haben behauptet. Nicht um eine dokumentarische oder künstlerische Bemühung um Wahrheit geht es, sondern um die filmische Abbildung einer nicht mehr hinterfragbaren, eben authentischen Realität, die mit der zu vermittelnden Botschaft identisch gesetzt wird. Die Wirklichkeitsillusion ohne Wahrheitsanspruch ist dabei mehr als stilistische Spielerei, sie ist Programmauftrag und bedeutungsschwere Mission.

Der Dogma-Film vollzog die programmatische Abwendung von den Konventionen des mit Hollywood identifizierten Mainstreamkinos ebenso wie von den Ideen des französisch inspirierten Autorenkinos. Auf künstliche Gestaltung als Ausdruck künstlerischen Anspruchs solle verzichtet werden. Die Kunst tritt hinter der Nachricht zurück, die an vulgärer Deutlichkeit gewinnt und zum Zentrum der Aktion wird. Das Wort "Dogma" ist durchaus wörtlich gemeint.

Im Dogma-Manifest, welches im Original als rotes Flugblatt mit zehn Geboten daherkam, wurde zu nichts geringerem als einer "Rettungsaktion" für ein Kino aufgerufen, das an "gewissen Tendenzen" zu ersticken drohe. Dabei bedurfte das "Gewisse" nicht der Decodierung. Der neue europäische Film funktioniert durch das dem Produkt vorauseilende Einverständnis zwischen Absender und Adressaten; er wird nicht mehr als Kunst und Unterhaltung begriffen, sondern als scheinbar unmittelbare Inszenierung des vorab Geglaubten, also zur Selbstvergewisserung eingesetzt. Dabei wendet sich das Ressentiment gegen die Idee von Kunst im Sinne künstlerischer Subjektivität und Autonomie, die als Bedingung für eine wenigstens "beginnende Konvergenz von Kunst und Erkenntnis" [2] gedacht werden kann. Mit dem regressiven Beharren auf dem einfach nur Abgebildeten, das den Eindruck des Authentischen einlösen soll, werden die Bedingungen des Wahrheitsgehaltes von Kunst preisgegeben.

Der antimoderne Puritanismus (kein Kommerz, keine Unterhaltung, keine Künstlichkeit), der sich im Dogma-Projekt ausdrückt, bekam die ökonomische Grundsicherung vom dänischen Kultusministerium und vom Rundfunk. Zwischenzeitlich wurde aus dem nationalen ein europäisches Modell der Kultur und Kulturförderung: Der Künstler verschwindet hinter dem Aktivisten und wird staatlich gefördert.

Inzwischen ist Dogma Geschichte: im Juni 2002 löste sich das "Dogmesecretariat" als Prüfstelle für die Vergabe der Dogma-Zertifikate auf. Aber noch diese Auflösung verstand sich ideologisch: Dogma sei eine Idee und keine Marke. Dem Bannen des brandings sollte die Universalisierung der Idee unter Aufgabe der vordefinierten Formen folgen. Georg Seeßlen, dem selbst das Konzept des Dogmafilms noch zu kapitalistisch erschien, wird zufrieden sein, denn: "Wie man es auch dreht und wendet, die ästhetische Geste zerfällt doch wieder nur in einen Witz und in ein Geschäft." [3]

Der tatsächliche Witz aber war, daß der jüngste Nach-Dogma-Film von Lars von Trier, "Dogville", höchst geschäftstüchtig angepriesen wurde: "Radikales Meisterwerk mit einer überragenden Nicole Kidman in der Hauptrolle und einem Aufgebot hochkarätiger Weltstars. Einzigartig inszeniert von Star-Regisseur Lars von Trier." [4] Geblieben ist von Lars von Trier wie von vielen im europäischen Kino allein die "Rettungsaktion", die sich fortan weniger dogmatisch an der Form, dafür umso mehr an der zu vermittelnden Nachricht festmacht. Von Trier erklärt für den Fall, daß die Botschaft des Films nicht genügte: "Zusätzlich zu den zahllosen amerikanischen Sendungen im dänischen Fernsehen beherrscht Amerika die Nachrichten, denn Amerika ist die mächtigste Nation der Welt. Und man sieht das Land sehr kritisch. In meiner Jugend ging ich auf Demonstrationen gegen die Weltbank und den Vietnamkrieg und wir versammelten uns alle, um Steine auf Botschaften zu werfen. Na ja, auf eine bestimmte Botschaft zumindest. Aber heute werfe ich keine Steine mehr". [5] Heute dreht er Filme, die er selbst stolz als "antiamerikanisch" bezeichnet. Denn Amerika, so von Trier, "sei nicht besser als all die Schurkenstaaten, von denen Mr. Bush so gern spricht". [6] Das europäische Kino versteht's als Kampfauftrag.

Daß die postulierte Authentizität nichts mit Wahrheit zu tun haben muß, gesteht von Trier stellvertretend für viele europäische Kollegen gern ein. In seinen "amerikanischen" Filmen, so der Regisseur, "spiegle ich lediglich die Information, die ich über das Land erhalte, und welche Gefühle diese Information in mir auslöst. Natürlich ist das nicht die Wahrheit über das Land, weil ich noch niemals dort war." [7] In postmoderner Geste offenbart sich die Verweigerung konkreter Erfahrungen, da man auch fern von jeder Empirie Bescheid zu wissen meint, schließlich besitzt man ja "authentisches Gefühl".

"Paradise Now"

Dem authentischen Gefühl als Träger des politischen Auftrags fühlt sich auch der Berlinale-Film "Paradise Now" verpflichtet. Wenn er im September 2005 in den deutschen Kinos anläuft, bekommt man leidliche Fernsehspielästhetik, ergänzt um bombensichere Botschaften, geboten: Am Ende des Films wird die Leinwand weiß. Man sieht keine Trümmer und keine ermordeten Menschen; der letzte Blick ist der in zwei entschlossene Augen. Immer näher fährt die Kamera an das Gesicht des jungen Palästinensers heran und separiert die um ihn herum sitzenden Menschen, seine Opfer.

Der Mann, dem die Augen gehören, heißt Said, er ist Selbstmordattentäter. Seine Opfer sind israelische Juden. Der Film zeigt den Weg zweier Palästinenser, die als Suicide Bomber "auserwählt" wurden, als schicksalhafte Passionsgeschichte. Das Verständnis für den antisemitischen Mörder und seine Tat wird eingefordert, der zurechtgeklitterte zeitgeschichtliche Rahmen wird als real und jede individuelle Handlung als von diesem determiniert und damit kaum mehr hinterfragbar inszeniert. Das Berlinale-Publikum verstand recht: "So ist es...", raunte es im Kinosaal, als Said Israel anklagte. Konsequent lobte das DeutschlandRadio den Film als "authentisch" und deshalb eben nicht "propagandistisch".

Um den antisemitischen Mord nicht als Untat, den Täter nicht als Unmenschen erscheinen zu lassen, wird Israel als anonyme, mordende Besatzungsmacht dargestellt. Der Terrorist bleibt dagegen selbst im Morden "menschlich". Said steigt nicht in einen Bus, in dem ein kleines Mädchen sitzt, denn er ist kein Kindermörder. Er wählt einen Bus voller Soldaten, die sich ihm wie dem Publikum als legitimes Ziel anbieten. Soviel "Skrupel" ist ebenso empirisch widerlegter Unsinn wie die inszenierte Wut gegen das im Film stets so bezeichnete "israelische Militär". Daß die palästinensischen Mörder in Radio, Fernsehen und Zeitung ebenso allgemein wie präzise gegen "die Juden" hetzen und unterschiedslos allen Juden den Tod wünschen, Soldaten ebenso wie kleinen Mädchen, und die tatsächlichen Exekutoren diese Unterscheidung in der Praxis ebenfalls nicht treffen, kommt nicht vor. Mit Said weiß das europäische Publikum entgegen jeder Empirie: Der Kindermörder heißt Israel.

"Warum sitzen in dem Bus, in dem Said sich in die Luft sprengt, fast nur Soldaten?", wird der Regisseur Hany Abu-Assad während der Pressekonferenz zu "Paradise Now" gefragt. Abu-Assad antwortet ausweichend. Er habe dem Filmcharakter Said selbst die Entscheidung überlassen wollen. Dabei ist es doch allein das europäische Publikum von dem Abu-Assad weiß, daß es bei der Aussicht auf zerfetzte kleine Mädchen sentimental wird - dem er eine Entscheidung gegen den palästinenesischen Suicide-Terror ersparen wollte. Abu-Assad verschweigt, daß die lineare und relativ geschlossene Form des Films nur die Entscheidung zwischen verschiedenen potentiellen Attentatsopfern vorsieht; die bewußte Entscheidung gegen das Selbstmordattentat würde dem Filmcharakter eine subjektive Entscheidungsmacht zubilligen, die in der verordneten "Richtung" des Films nicht aufgehen würde. Daher folgert Kais Nashef, der im Film Said spielt, folgerichtig: "Die Soldaten im Bus erleichtern Said die Entscheidung, sich in die Luft zu sprengen."

Israelis bleiben in diesem Film unsichtbar. Man sieht sie nur aus der Ferne, als Figuren, nicht als Menschen. Keinen, nicht den Zivilisten an der Busstation, nicht den Soldaten im Bus, nicht das kleine Mädchen beim Busfahrer, darf man näher kennen lernen, sonst könnten sie ein der beabsichtigten Wirkung zuwiderlaufendes Mitgefühl der Zuschauer wecken. Abu-Assad wählt deshalb in seinem Film konsequent nur die Perspektive des Selbstmordattentäters.

Er habe sich, so begründet er dies, gefragt, warum jemand so etwas tue. Und er habe gemerkt, daß sich bisher niemand die Geschichte der Palästinenser angehört habe. Deshalb sind die Selbstmordattentäter in "Paradise Now" auch Opfer und keine Täter und die Israelis, deren sinnlose Ermordung am Schluß in sakralem Weiß verschwindet, keine Opfer, sondern Täter.

Ashraf Barhoum, der im Film einen Terroristenführer mimt, spricht eine deutlichere Sprache als sein Regisseur. Ihm gehe es nicht um Kunst, nicht um Licht oder Kameraeinstellungen, sondern um Unrecht. Um das darzustellen, bräuchte es keine Recherche, keine intellektuelle Anstrengung, kein Durchdringen der Situation. Sie seien alle Palästinenser, so die anwesenden Schauspieler einmütig in Berlin, darum wüßten sie, wie man deren Verzweiflung und Leid angesichts der Besatzung richtig darstelle. Und diese Besatzung, das betonte auch Abu-Assad, sei verantwortlich für die Selbstmordattentate.

Der Film, von dem der arabisch-israelische Regisseur meint, alles in ihm sei real, lügt sich in die Herzen des Publikums.
Vollzug des Schicksals

Die Wahl der Waffen kann, soviel Freiheit gestattet der Film, durchaus erörtert werden: Einen "Moral War" im Sinne eines antiisraelischen Krieges ohne Selbstmordattentate fordert etwa die junge Freundin von Said. Sie warnt davor, daß die Praxis der Selbstmordattentate dazu führen könne, daß man sich zu sehr mit den Methoden der Israelis gemein mache. Sie vertritt im Film die europäische Option einer antisemitischen "Zivilgesellschaft", die betont hilflos erscheint und an der unmenschlichen Realität scheitert. Wie brutal muß Israels Regime sein, fragt sich das cineastische Europa, daß die Liebe dieser jungen Frau nicht die Verzweiflungstat Saids aufzuhalten vermag? Die Frage scheint rethorisch, doch da "Paradise Now" ein Propagandafilm ist, produziert von Parteisoldaten, die der subtileren Sprache der Bilder als wirksamstem Mittel der Indoktrination mißtrauen, zünden im letzten Drittel des Filmes Saids Monologe wie Sprengsätze. In seiner Schlußrede klagt er Israel ungeheuerlicher Verbrechen an, noch die Verantwortung für die Hinrichtungen sogenannter Kollaborateure durch die Palästinenser wird Israel angelastet. Said wird fraglos zur Identifikationsfigur, sein letzter Gang ist der eines Helden zum Selbstopfer, sein unausweichliches Schicksals muß sich vollziehen.

In einer Szene, in der sich Said und sein Partner auf die Tat vorbereiten, zitiert Abu-Assad das Bild "Das letzte Abendmahl" von Da Vinci. In dieser Szene, in der der Mörder sich unmittelbar vor der geplanten Tat mit seinen Kumpanen an eine Tafel setzt, wird das Gemälde bis ins Detail nachgestellt. Die christliche Symbolik identifiziert in Said den Jesus und in seinem anderen Sinnes gewordenen Partner, der vergeblich versucht, ihn doch noch von der Tat abzubringen, den Judas. Die Dramaturgie, wonach nicht mehr der Jude Jesus, sondern ein veritabler Judenmörder sich "für uns" opfert, ist, zumal für das europäische Publikum, dem dieser Film gilt, suggestiv. Doch der modernisierte Judas scheitert im Verrat, der zunächst selbst zweifelnde Said bleibt seinem Vorhaben treu und läßt sich von der zaghaften Widerrede nicht beirren. Jeder Zweifel am Auftrag kann nur aus niedriger Gesinnung, konkret aus Feigheit, aufkommen. Said überwindet die eigene Angst. Sein Sprengstoffgürtel bleibt um den Leib gebunden.

So wie die Einstellungen mit christlicher Ikonografie spielen, wird auch die Mordtat Saids zu einer Vermischung aus christlichem Opfertod und islamischem Selbstopfer. Die Religion, das sagt Abu-Assad ganz offen, werde zum "einzigen Ausweg aus der Hölle des Lebens". Sie gebe den Menschen, was das moderne, demokratische, kapitalistische System ihnen verweigere.

Abu-Assad konstruiert eine Realität, die der vorausgesetzten primitiven Antinomie von Israelis als Tätern und Palästinensern als Opfern entspricht. Für sich selbst behauptet er eine Position außerhalb des Geschehens. Er sieht sich als Künstler, der einen Mythos neu schreiben will: den Mythos vom Kämpfer, der in den eigenen Tod geht, um den Feind, der sein Volk bedrängt, zu töten. Dadurch adelt er die mörderische Realität dieses "Mythos" und erhebt ihn vom schäbigen Abschiedsvideo eines Märtyrers zur europäischen Filmkunst.

Die Berliner Zeitung wundert sich noch anläßlich Preisverleihung: "Irgendwie komisch mußte es auch wirken, daß dem Palästinenser Hany Abu-Assad für sein Attentäterdrama (...) der Preis für den besten europäischen Film zuerkannt wurde." [8] Doch der Film ist tatsächlich ein europäischer: Deutschland, Frankreich und die Niederlande kooperierten bei der Produktion; Palästina als europäische Herzensangelegenheit wurde eingemeindet. [9] So bekam er auf der 55. Berlinale, was er verdiente: Den Preis Der Blaue Engel für den besten europäischen Film, den Amnesty International-Filmpreis sowie den Zuschauerpreis der Berliner Morgenpost.

Diese Politisierung schärft das Profil der Berlinale, dem es an erträglichem Wetter, großen Stars und relevanten Filmen aus Hollywood zusehends fehlt. Freude kam u.a. bei der Berliner Zeitung auf, die es für klug hält, "sich weiter zum politischen Profil zu bekennen, auch wenn man damit nicht immer und nicht alle gewinnen kann". [10] Denn "daß politisches Kino keineswegs didaktisch oder gar irgendwie propagandistisch noch wie der 'Schwarze Kanal' aussehen muß" [11], sei mit dem Film "Paradise Now" bewiesen.

Das Publikum reagierte bei den Berlinale-Vorführungen angemessen: Stille beim Filmabspann, kein Geräusch, kein Gespräch, keine Musik. Die anempfohlene Einfühlung wurde zelebriert. Gerade noch hatte sich auf der Leinwand der Palästinenser Said in einem Bus voller israelischer Soldaten in die Luft gesprengt. Nun trauerten die Besucher um den Mörder als tragisches und darum eigentliches Opfer, dessen Tat sie nicht gutheißen müssen, um die Beweggründe zu verstehen. Dieses Verständnis reicht; mehr verlangt die Barbarei nicht vom Kunstsinn.

Als sich Produzenten und Darsteller auf der Bühne des Berliner Kino International versammelten, wurde die Stille durch weit bedrückenderen Applaus, ja frenetischen Jubel durchbrochen. Die Publikumslieblinge dankten artig, der Hauptdarsteller trat ans Mikrofon: "I hope you did enjoy the movie. I did. Nice evening!" Befreites Gelächter aus den Reihen, nochmals Applaus: vom arrivierten Filmfreund, von jungen Schülern mit palästinensischem Halswickel, von maroden Altautonomen und auch von diversen Frauen im Schleier. Im gemeinsam cineastisch durchlebten Schicksalslied finden sich die Opferwahnsinnigen zusammen.

Die standing ovations für den in Szene gesetzten Judenmord auf der Berlinale bestätigen die Sehnsucht deutscher Kunstfreunde, sich der nahöstlichen Barbarei als verständnisvolle europäische Feingeister zu empfehlen. Sie rationalisieren sich den antisemitischen Massenmord aus der imaginierten Fratze des israelischen Militärs. Dabei nimmt diese Geisteshaltung Rekurs auf das "Selber schuld", das sich schon nach 9/11 Bahn brach.

Dreamteam

Das politische Profil der Berlinale zu schärfen ist nicht nur Sache des Festivalchefs Dieter Kosslick allein; das Festival wird aus guten Gründen zu 60% aus Mitteln des Bundes finanziert. Mit derartiger finanzieller Unterstützung wird Gegenöffentlichkeit, die sich in Deutschland nie antistaatlich sondern stets antiamerikanisch versteht, als Schulterschluß zwischen deutscher Regierung und seinen Kunstaktivisten möglich. Kosslick selbst gab zu Protokoll: "In unserer globalisierten Medienwelt leisten wir einen Beitrag zur Gegenöffentlichkeit. Ich möchte, daß das Festival deckungsgleich ist mit dieser Welt. Wenn man vom Irak das K wegstreicht und ein N dranhängt und so das nächste Kriegsfeld definiert, nehme ich das sehr ernst. Gerade hier in Berlin und bei unserer Geschichte (...) Es gibt zu wenige Institutionen, die sich für die Globalisierungsopfer engagieren, für jene, die keine Rechte haben und sich nicht wehren können. Hier hat die Berlinale traditionell eine Aufgabe, neben aller Kunst". [12] Neben aller Kunst? Doch eher: vor aller.

Wie schmal der Grat zwischen kunstsinnig inszeniertem und praktisch verübtem Judenmord ist, bewies Abu-Assad im Interview mit Kulturzeit auf 3sat. Er habe sich in Vorbereitung von "Paradise Now" mehrfach mit palästinensischen Selbstmordattentätern getroffen, von deren geplanter Aktionen er Kenntnis erlangte. Davon nicht umgehend die Sicherheitskräfte in Kenntnis zu setzen, gilt aus guten Gründen als justiziable Unterstützung des Terrorismus, was sowohl in Israel, dessen Staatsbürger Abu-Assad ist, als auch in Deutschland, von dem er regierungsamtliche Förderung erhält, strafbar ist.

Doch fort mit juristischen Spitzfindigkeiten, wenn es um Großes, wie die neue "Kultur des Sehens" [13], geht. Staatsministerin Christina Weiss, Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, ist maßgeblich an der Förderung des neuen europäischen Filmes beteiligt: "Die Geschichten, die uns das Kino erzählt, sind Mittler und Boten zwischen den Kulturen der Welt. Nichts bringt uns einer anderen Kultur näher als das 'fremde' Schicksal, das wir als Zuschauer im Kino zu unserem eigenen machen." [14] Das "fremde" Schicksal des Judenmörders als aktivem Antisemiten wird mit "Paradise Now" dem erlebnisarmen Mitteleuropäer als eigenes anempfohlen.

Auf der Berlinale wurde bekanntgegeben, daß der von Weiss und Kosslick ins Leben gerufene World Cinema Fund den deutschen Verleih von "Paradise Now" unterstützen werde. Dies sei eine "neue Dimension der Filmförderung" [15], was bei der affirmierten Schicksalskongruenz zwischen palästinensischen Terroristen und deutschem Kinopublikum einzuleuchten vermag. Dergleichen Vorgänge rufen Deutschlands Schicksalsexperten Bernd Eichinger auf den Plan. Seine Constantin-Film wird den bundesweiten Vertrieb von "Paradise Now" übernehmen. Nach dem europaweiten Erfolg mit "Der Untergang" ist dieses Engagement nur folgerichtig.

Befreit

Schon in den 70er Jahre war Eichinger Produzent von Hans Jürgen Syberbergs siebenstündigem Hitler-Film ("Hitler. Ein Film aus Deutschland", 1977). Der Versuch, Politik und Geschichte auf einzelne "Schicksale" herunterzubrechen, funktionierte damals noch nicht recht, dieser "experimentelle" Film fand wenig Publikum und Syberberg gerierte sich als Opfer der Überlebenden und der Siegermächte. Solche wie er, so schrieb einmal Eike Geisel, "können den Amerikanern immer noch nicht verzeihen, daß sie den Deutschen nach 1945 die Demokratie verordnet hatten und daß einige Emigranten zurückkehren durften. Dadurch seien die Deutschen, erklärte Hans Jürgen Syberberg, so umerzogen worden, daß man von einer seelischen Sklaverei sprechen kann." [16]

Syberbergs Hitler-Film wurde harsch kritisiert: Der Stoff würde, so die damaligen Feuilletons, mystisch verklärt und übertrieben pathetisch-theatralisch, geradezu opernhaft stilisiert. Sein Rettungsversuch der deutschen Kultur und sein damit verbundener positiver Bezug gerade auf die barbarischsten Aspekte deutscher Geschichte brachtem ihm den Vorwurf eines "elitären Pseudofaschismus" ein. Dabei habe Adolf Hitler, so Syberberg, doch v.a. konservative deutsche Werte diskreditiert und der Film sei daher ein Versuch, zu verstehen, sich vom Fluch der deutschen Schreckensgeschichte zu befreien. Erst mit "Der Untergang" gelingt es Eichinger publikumskompatibel, sich den "bösen Geistern" zu stellen, um so die Vergangenheit loszuwerden.

Dieser neue Hitler-Film wirkt um so vieles "authentischer", weil er nicht mehr als Kunstwerk, sondern als unmittelbares "Biopic" daherkommt. Seine Publikumswirkung erwächst aus der Simplizität der Gestaltung und der erzählten Geschichte ebenso wie aus dem masochistischen, entmündigenden Bedürfnis der Zuschauer nach dem dreifachen Opferstatus, dem "Der Untergang" das bestätigende Filmmaterial liefert: Opfer Hitlers, Opfer der Alliierten und schließlich Opfer einer Geschichte, die bis heute als bleischwere Last halluziniert wird.

Das schlichte Protokoll der letzten Tage im Führerbunker gerät so distanz- wie kritiklos. Nach der entlastenden Projektion auf den wahnsinnigen Unmenschen Hitler, dem alle Schuld für die Verbrechen des Nationalsozialismus angelastet wurde, folgt die nicht minder entlastende Projektion auf den verzweifelten Nur-Menschen Hitler. Die Privatisierung und Psychologisierung gerät zur Verharmlosung: Der besiegte Gröfaz Hitler wird im Bunker wieder zum reichlich hysterischen Kleinbürger, als der er einst seinen Weg in Wirtshaushinterzimmern begann, und damit auf ein klägliches Maß reduziert. Die Wendung vom Wahnsinn zur Verzweiflung evoziert Betroffenheit auch über das je eigene deutsche Schicksal, das man glaubte einem großen Führer anzuvertrauen, der sich am Ende nur als gescheiterter Wicht erweist. Hitler selbst nimmt man die "Größe" der Tat nicht mehr ab; so nah und "authentisch" der Führer in "Der Untergang" gerät, so fern und unvorstellbar wird damit das zu Ende gehende Verbrechen.

Daß ein amerikanischer Film zum gleichen Thema weniger "authentisch" ausgefallen wäre, glaubt auch der Regisseur Oliver Hirschbiegel, "weil wir anders sind, anders erzählen. Es ist ein sehr deutscher Film. Ein Grund, warum ich so stolz auf diesen Film bin, ist, daß uns da etwas gelungen ist, was als deutscher Film eine große Authentizität hat. Der ohne vorzuverurteilen, ohne zynisch zu werden, ohne erhobenen Zeigefinger mit der eigenen Geschichte und den Vorfahren umgeht". Man dürfe sich nicht von der Amerikanern die Geschichte wegnehmen lassen, assistiert Produzent Eichinger.

Die Filme "Der Untergang" und "Paradise Now" weisen augenfällige Ähnlichkeiten auf. So steht bei beiden eine opferwahnsinnige Geschichte im Mittelpunkt der Bemühungen einer reduzierten, wenn nicht banalisierten Fernsehspieldramaturgie die weder Filmkunst noch Massenfilm verwirklichen will, weder künstlerisch ambitioniertes Autorenkino noch Hollywood. Als "ernsthaftes" und "politisches" Kino will es das Publikum unmittelbar erreichen und verzichtet zu diesem Zweck auf jeden Tand. Lineare Erzählstränge in einem eng begrenzten räumlichen, zeitlichen und personellen Ensemble liefern von durch die Umstände prädeterminierten Biographien ein vermeintlich authentisches, plausibles Bild, das in seinem Pseudorealismus doch vor allem eins sein soll: Schicksal.

Und wo Schicksal herrscht, ist jeder fraglos Opfer des sich ereignenden Dramas, jede individuelle Entscheidung wird zum bloßen Nachvollzug des Schicksals.

"Ich möchte die Zuschauer ergreifen, ohne zu moralisieren" erklärt Bernd Eichinger in einem Interview über den Hitlerfilm, was für das zeitgenössischen Judenmörderdrama wohl ebenso gelten dürfte, denn Moral würde eine eindeutige Parteinahme provozieren. Ihre in der von Anfang an intendierten Täter-Opfer-Umkehr liegende eigene Dreistigkeit kaschieren die Filmemacher durch den obstinaten Hinweis auf die quasi-neutrale Sicht, mit der doch nur, ohne zu werten, nachholend dokumentiert werden sollte, was wirklich war. Moral wäre in diesem Kontext gleichbedeutend mit dem Anspruch, die Wahrheit darüber auszusprechen, wer Täter und wer Opfer ist. Um eine scheinbar so einfache Wahrheit geht es in keinem dieser Filme.

Der Tod selbst ist in beiden Filmen bilderlos; den gesichts- und geschichtslos bleibenden ermordeten Juden wird jeweils übermächtig das Ende der Mörder entgegengestellt, das bei so viel Emphase für Bruder Hitler und Bruder Said einer filmischen Illustration nicht mehr bedarf. Weil die Einfühlung in die Täter schon geschehen ist, wird ein Bilderverbot für die Opfer ausgesprochen, denen nicht als toten und schon gar nicht als lebendigen Menschen die Emphase gelten darf. "Paradise Now" geht in entscheidenden Momenten aber über "Der Untergang" hinaus und kann darum als dessen Fortsetzung gelten.

In Eichingers Film waren die Deutschen zwar dreifaches Opfer. Doch trotz aller Bemühungen, Hitler weder als Dämon noch satirisch verfremdet zu porträtieren, sondern als Menschen, ist eine umstandslos positive Identifikation mit den Deutschen der NS-Zeit (noch) nicht möglich; sie bleibt unvollendet. Der Autoexorzismus gesteht das Böse bei sich selbst noch ein. Dagegen ist die positive Identifikation mit dem antisemitischen Mörder in "Paradise Now" anschlußfähig. Nicht, weil man die Tat unmittelbar begrüßen würde, sondern weil der Mörder selbst das einzig sichtbare und damit plausible Opfer ist. Israel selbst hat ihm die Tat aufgezwungen, Israel trägt die Verantwortung. Der Dämon ist identifiziert. Des Weiteren ist die Täter-Opfer-Verkehrung erst in der Gegenwart, mit Israel als Juden unter den Staaten, vollständig. Der Ranküne gegen die während des Nationalsozialismus ermordeten Juden und die siegreichen Alliierten im 2. Weltkrieg geht dagegen immer noch die eigene Verwicklung in Schuld voraus, deren Abspaltung bis heute nicht gänzlich gelang. Der zwanghaft entpolitisierten folgt die hochpolitische Familientragödie. Versuchte "Der Untergang" noch den historischen Kontext weitestgehend auszublenden und ein der Welt entrücktes Kammerspiel zu inszenieren, behaupten die Macher von "Paradise Now" einen politischen Rahmen, der auf dem antiisraelischen Konsens aufbaut und als real angenommen wird.

In "Der Untergang" wird die Schuldfrage durch die Schicksalsfrage überlagert; wenn niemandem die Schuld gegeben werden muß, ist Verantwortung nicht länger existent. Was bleibt ist Fassungslosigkeit. Der Titel "Untergang" ist treffend, denn ein Kampfauftrag ist am Ende der Katastrophe nicht mehr zu erkennen; der Film ist nur noch Epilog. Im Hitlerfilm ist die Apokalypse zwar total, sie trifft aber nicht notwendig alle Beteiligten; zumindest Hitlers Sekretärin bleibt der Weg ins Wirtschaftswunder Bundesrepublik.

Ganz anders in "Paradise Now". Viel umfassender wirkt hier das individuelle Schicksal, das ausschließlich dem letalen Ziel entgegenstrebt — für den einzelnen kann es keine Zukunft geben. Aus der als ausweglos behaupteten Situation Saids, die stellvertretend für alle Palästinenser stehen soll, bleibt aber in der Anklage gegen Israel der antisemitische Kampfauftrag erhalten. Nun also wagt man sich, im Anschluß an die Täter-Opfer-Verdrehung die Schuldfrage zu stellen. Gerade weil es ein Film für Europa ist, und weniger einer für ein arabisches Publikum, weicht "Paradise Now" absichtsvoll der eigenen antisemitischen Logik aus, das jüdische Feindvolk in toto zum legitimen Ziel zu erklären. Die Verkitschung durch die Entscheidung gegen die Ermordung eines Kindes, aber für die Suicide Attack gegen israelische Soldaten durchbricht dessen Logik, um für Europäer anschlußfähig zu sein. Hier liegt das Potential für einen fortgesetzten Tabubruch: Es ist eine Frage der Zeit, wann auch vor europäischem Publikum die feinfühlige Selektion der Mordopfer nicht mehr nötig sein wird. Während die Palästinenser, wie es "Paradise Now" behauptet, in ihrem verzweifelten Kampf um Befreiung scheitern, stellt sich Europa und mit ihm federführend das europäische Kino in den Dienst der gemeinsamen politischen Mission. Der Kampfauftrag "Gegen Krieg und Gewaltherrschaft!" wendet sich mit antifaschistischem Gestus gegen Israel.

Reprise

"Für Otto Normalvergaser ist die Welt von gestern noch in Ordnung gewesen. Sie war, weil jüdisch beherrscht, zwar unerträglich, aber er konnte dies sagen und durfte auch etwas zu ihrer Rettung unternehmen. Nach dem fehlgeschlagenen Rettungsversucht befinden sich die Nachfolger dieses Unterfangens in der überaus mißlichen Lage, daß ihnen in der Frage der jüdischen Weltherrschaft nicht nur die Hände gebunden sind, sondern auch der Mund verboten ist". So schrieb Eike Geisel noch 1993. [17] Die Zeiten haben sich geändert. Die Kommunikationslatenz ist längst Geschichte, für die Tat verbündet sich Europa mit den "Brothers in Crime" (Wolfgang Pohrt) an der Peripherie. Die Aufgabenteilung zwischen der europäischen und islamischen Barbarei vermittelt sich nicht zuletzt im neuen europäischen Film. Der Kulturkampf tobt.





[1] "Gestalte Deinen Code" von Dietmar Kammerer, taz vom 31. März 2005
[2] "Gesammelte Schriften Band 1" von Theodor W. Adorno, S. 370, Suhrkamp, Frankfurt am Main
[3] Zitiert nach: "Gestalte Deinen Code" von Dietmar Kammerer, taz vom 31. März 2005
[4] DVD-Werbung der "Concorde Home Entertainment"
[5] "Gedanken, Ideen, Inspirationen" von Lars von Trier, DVD "Dogville" der "Concorde Home Entertainment"
[6] ebenda
[7] ebenda
[8] "Was ist Splut?" von Anke Westphal, "Berliner Zeitung" vom 21. Februar 2005
[9] "Die Welt" vom 21.02.2005 nennt "Paradise Now" einen europäischen Film (Niederlande, Deutschland, Frankreich), während die "Berliner Zeitung" vom gleichen Tage als Herkunftsland schon Palästina angibt.
[10] "Was ist Splut?" von Anke Westphal, "Berliner Zeitung" vom 21. Februar 2005
[11] "Mannsjahre dreier Könige" von Anke Westphal, "Berliner Zeitung" vom 19. Februar 2005
[12] "Die Welt fliegt uns um die Ohren. Interview mit Dieter Kosslick u.a.", "Tagesspiegel" vom 08. Februar 2005
[13] "Grußwort" von Christina Weiss, Berlinale Journal 2005
[14] ebenda
[15] ebenda
[16] "Triumph des guten Willens" von Eike Geisel, Verlag Klaus Bittermann, Berlin 1998
[17] ebenda
[|<<]