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Weg ohne Ziel: Über Ernst Fischer

von Gerhard Scheit

(Weg und Ziel 4/1999)

 
Der Widerspruch zwischen politischer und literaturkritischer Arbeit ist vielleicht bei keinem Autor, der je auf diesen verschiedenen Feldern gewirkt hat, so groß wie bei Ernst Fischer. Mit den politischen Texten sind dabei nicht nur seine berüchtigten Broschüren etwa gegen den Trotzkismus gemeint (Vernichtet den Trotzkismus...), und nicht nur literarische Entgleisungen wie das antititoistische Propagandastück vom Großen Verrat - sie bilden ebenso wie die üblen wahltaktischen Kompromisse mit den 'ehemaligen' 'kleinen' Nazis die finstere Seite seines Engagements für die Vollendung der "Unvollendeten", wie Fischer selbst die österreichische Nation nannte. Zu den politischen Schriften wären unter diesem Gesichtspunkt auch Fischers spätere autobiographische Schriften zu zählen, in denen er sich eben von jenen Entgleisungen distanziert. Denn so sehr er sich darin auch zu distanzieren versucht, es gelingt ihm eigentlich keine Selbstreflexion. Und das dürfte wiederum kennzeichnend sein für die eurokommunistische Wendung insgesamt, worin lediglich die Volksfront der früheren Jahre zu Ende gedacht wurde - zu dem Ende, wo vom Staatskommunismus nur noch Staat übrigbleibt, vom Volk der Nationalismus und von der gemeinsamen Front gegen den Faschismus eine verbesserte bürgerliche Gesellschaft. Man lese nur, welche Illusionen sich Ernst Fischer über die österreichische Nation machte, als er Das Ende einer Illusion schrieb: in dem, am letzten Lebenstag zu Papier gebrachten Schlußabschnitt des Buchs hat er fast eine Apotheose des Kreiskyschen Reformprogramms und eine Verklärung nationaler Identität formuliert. Verhängnisvoll darum, wenn heute innerhalb der KPÖ die Versöhnung mit Ernst Fischer posthum gesucht wird, ohne sich das Dilemma, das Fischer über das Jahr 1968 hinweg prägte, bewußt zu machen, ohne auch nur den Versuch zu unternehmen, den Horizont, in den Fischer bis zuletzt gebannt blieb, zu übersteigen.
Stalinismus jedenfalls läßt sich auf dieser Grundlage nicht kritisieren, da seine Voraussetzungen unbegriffen bleiben: staatliche Herrschaft und Warenproduktion, die nach der Oktoberrevolution nicht abgeschafft wurden - vor allem deshalb, weil die Ausweitung der Revolution nicht glückte. Auf solcher Grundlage konnte Fischer seine Texte gegen Trotzkismus und Titoismus nur bedauern, aber nicht zurücknehmen - und er verschwieg bis zuletzt die mittlerweile bekannt gewordenen Denunziationen im sowjetischen Exil. Selbst wenn er bereit gewesen wäre, darüber offen zu sprechen, er hatte keine Kategorien dafür, seine frühere Lage zu reflektieren.
Nicht die beschwichtigenden Antworten, sondern die immer wiederkehrenden quälenden Fragen, die Ernst Fischer sich stellen mußte - "Warum habe ich das geschrieben?" - erweisen sich darum als das Bleibende der Autobiographie. Sie sind ein Zeichen, daß die Verdrängung letztlich nicht erfolgreich war.

Grillparzer und Stalin

Das Seltsame an Ernst Fischer ist aber nun, daß die Selbstreflexion, die man in der Autobiographie vergeblich sucht, in den literaturkritischen Schriften stattfindet - und dies schon zu Lebzeiten Stalins, etwa zur selben Zeit, als Fischer Schutzbündler denunzierte. Er entwarf seinen Aufsatz über Grillparzer im Moskauer Exil vom 1941 - und dieser Text gehört bis heute zum Besten, was je über diesen Dichter und Lieblingsautor der Konservativen geschrieben wurde. Hier konnten die späteren Essays über Lenau (1952), Nestroy (1962), Kraus (1962), Musil (1957) und Kafka (1962) unmittelbar anschließen. Es gibt in dieser Reihe keinen Bruch; die Aufsätze bilden im Stilistischen wie in ihrem kritischen Scharfsinn durchaus eine Kontinuität, die unter stalinistischen Verhältnissen beginnt und von Anfang an über sie hinauszureichen scheint. So konnte sie Ernst Fischer gemeinsam 1962 in dem Band Von Grillparzer zu Kafka publizieren - ohne Kommentar.
Man kann viele Werke, die seit der Volksfront-Periode unter der mehr oder weniger wachsamen Aufsicht kommunistischer Parteien geschrieben wurden, als humanistische Fassade des stalinistischen Terrors ansehen - die Aufsätze Ernst Fischers über die Literatur österreichischer Provenienz gehören nicht zu diesen Potemkinschen Dörfern. Merkwürdigerweise führte ihn gerade diese Literatur, entstanden in der Auseinandersetzung mit der Habsburgermonarchie und ihrer Bürokratie, zu seinen provokantesten Einsichten. Immer wieder durchbrach er dabei Tabus der Rezeption.
Mit seinem frühen Moskauer Grillparzer-Aufsatz hatte er linke wie rechte Rezeptionsgewohnheiten irritiert: die Linke verachtete Grillparzer, die Rechte verehrte ihn - Fischer verachtete die Rechte, verehrte aber Grillparzer und kritisierte ihn gleichzeitig, indem er ihn mit der Misere des Metternich-Systems in Zusammenhang brachte. Seine Kafka-Studien riefen wiederum unter DDR-Germanisten und Kulturpolizisten einen Eklat hervor. Sein kritischer Aufsatz über Canettis Masse und Macht löste indessen in Österreich selbst einen kleinen kulturpolitischen Skandal aus. Ernst Fischer suchte durchaus immer wieder den Konflikt, auf dessen Vermeidung das heutige Kulturleben, die heutige Literaturwissenschaft, hinausläuft: gegen die Integration und Ruhigstellung von Karl Kraus, wandte er schon 1962 ein: "Niemand sage, er war unser! Denn er war es nicht."
Ernst Fischer gelang es offenkundig, die Reflexion seiner politischen Lage eigenartig zu verschieben. So konnte er über einen anderen Gegenstand die eigene Situation, oder doch einen ihrer Aspekte, reflektieren. Es handelt sich dabei keineswegs um eine simple Projektion, vielmehr machte Fischer sich seine Distanz zu der spezifischen Situation des interpretierten Autors bewußt - und aus dieser Bewußtheit der Distanz schöpfte er historische Objektivität ebenso wie subjektives Engagement. Wie sonst wäre er etwa imstande gewesen, den Bürokratismus der Metternich-Zeit in seiner inneren Schwäche - die es Grillparzer zu leben ermöglichte - mit derartiger Prägnanz zu beschreiben, hätte er ihn nicht im Geheimen mit jenem Bürokratismus verglichen, unter dessen Drohungen er selbst leben mußte, dessen 'Beamter' er selbst bereit war zu sein. Schrieb Fischer über Grillparzers Situation: "Das Wohl des Staates schien davon abzuhängen, daß über jeden Schritt jedes Bürgers ein Akt angelegt, zugleich aber davon, daß niemals ein Akt erledigt wurde, denn jede Erledigung irgendeines Anliegens, einer Beschwerde, eines Streitfalls konnte irgendwelche unvorhergesehene Wirkungen haben" - so war dem Interpreten hier wohl bewußt, daß der Sowjetstaat zu den unvorhergesehenen Wirkungen fortschritt und die Akten erledigte. Der Faszination, die von Grillparzers Libussa ausging, konnte der Moskauer Exilant sich nicht entziehen; Fischer zitiert am Ende ihr subversives Urteil über den "Staat, der jedes Einzelne in sich verschlingt". Gemeint ist dabei von Grillparzer kein bestimmter Staat, sondern der Staat an sich.
Vor allem auch die eindringlichen Analysen der Werke Kafkas sind ohne die Erfahrungen des Moskauer Exils und späterer stalinistischer Prozeßwellen nicht zu erklären; das Engagement für den Prager Autor, das Fischer nach der Debatte um Hanns Eislers Faustus abermals in Konflikt mit der DDR-Wissenschaft brachte, hat vielmehr hier seinen Ursprung. "Was Kafka als literarisches Thema entdeckt hatte, war die österreichische Bürokratie. Doch im satirischen Zerrbild von einst sind unverzeichnet die Züge späterer bürokratischer Machtapparate erkennbar." Wie genau sie Fischer erkannte, zeigt sich an einer Stelle seiner Interpretation, worin die innere Dramaturgie der Moskauer Prozesse - ohne sie beim Namen zu nennen - enthüllt wird: "Mit unzulänglichen Mitteln hat Josef K. sich aufgelehnt; der namenlose K. im Roman 'Das Schloß' lehnt sich nicht mehr auf, sondern ist nur bemüht, kein Ausgestoßener zu sein, aufgenommen zu werden, der Gemeinschaft des Schlosses anzugehören (...) Kafka hat den äußeren und inneren Zustand des schuldlos aus einem Kollektiv Verdrängten, der jede Schuld auf sich zu nehmen bereit ist, wenn er nur zurückkehren und dadurch gesellschaftlich existieren darf, mit beunruhigender Präzision gestaltet. K. erfährt zur Genüge, wie schändlich das bürokratische System des Schlosses ist, weiß aber auch, welcher Verlassenheit der einzelne ausgeliefert ist, wenn er nicht 'dazugehört' und will somit um jeden Preis dazugehören. Lieber die schlimmste Gemeinschaft als keine! Lieber Kapitulation als Einsamkeit."

Georg Lukács und Ernst Fischer

Hannah Arendt hat in der Erfahrung der Verlassenheit die subjektive Voraussetzung "totalitärer" Politik gesehen. Obwohl sie, ihrem Totalitarismus-Begriff folgend, keinen Unterschied macht zwischen den beiden politischen Seiten, denen der Verlassene sich zuwenden konnte - und hierin besteht ein entscheidender Unterschied -, gibt es doch keine bessere Beschreibung seiner subjektiven Ausgangsposition: "An der Wirklichkeit, die keiner mehr verläßlich bestätigt, beginnt der Verlassene mit Recht zu zweifeln; denn diese Welt bietet Sicherheit nur, insofern sie uns von anderen mit garantiert ist.
Das einzige, was in der Verlassenheit als scheinbar unantastbar sicher verbleibt, sind die Elementargesetze des zwingend Evidenten, die Tautologie des Satzes: zweimal zwei ist vier. (...) Dies Zwangsfolgern ist der Extremismus, der allem ideologischen Denken eignet und an dem gemessen freies und kontrolliertes Denken an mangelnder Radikalität zu leiden scheint." Aber doch nur scheint. Denn wirklich radikales Denken hätte zuallererst die Wurzeln dieser Logik, dieses Zwangsfolgerns, offenzulegen, es hätte dieser Logik nur zu folgen, um sie abzuschaffen. Dafür waren aber angesichts des Nationalsozialismus die Bedingungen nicht günstig.
Vor dem "Extremismus des Ärgsten", dem man in politischen Argumentationen folgte, bot imaginären Schutz die Literatur. Sie konnte einerseits die Wirklichkeit ersetzen, an der zu zweifeln der Verlassene begonnen hatte, sie konnte aber auch die Wirklichkeit der Verlassenheit, die von der politischen Phrase liquidiert wurde, bestätigen.
An dieser Stelle trennten sich die Wege von Ernst Fischer und seinem "Lehrer" und Freund Georg Lukács. Nachdem sich Lukács von seinen frühen revolutionären, in Geschichte und Klassenbewußtsein festgehaltenen Einsichten abgewendet hatte und zum Denker der Volksfront geworden war, konnte er sich lange Zeit jenen "Zwang der Verlassenheit" nicht mehr eingestehen. Seine berüchtigte Verurteilung von Kafkas Werk, mit der er gleichsam die Erfahrung des Wirklichkeitsverlusts von sich fernzuhalten suchte, änderte er erst nach 1956, dann aber gründlich: im Vorwort zum 6. Band seiner Werk-Ausgabe hält er Kafka nicht mehr als abschreckendes Beispiel dem Realismus entgegen, sondern stellt ihn auf eine Stufe mit dem großen satirischen Realisten Swift, dessen Genialität er darin sieht, "daß sein Blick auf die Gesellschaft - prophetisch - eine ganze Epoche umfaßt. Nur Kafka bietet in unserer Zeit etwas wie eine Analogie dazu, indem bei ihm eine ganze Periode der Unmenschlichkeit als Gegenspieler zum österreichischen (böhmisch-deutsch-jüdischen) Menschen der letzten Regierungszeit Franz Josephs in Bewegung gesetzt wird." (Hervorheb. v. m., G.S.) Die ganze Epoche, die von Kafka umfaßt wird, schließt nun den Stalinismus ein. Im Moskauer Exil aber - als die Verlassenheit am größten war - hatte Lukács noch die Rekonstruktion der verschwundenen Wirklichkeit betrieben, als einer Welt, in der die Menschen nicht verlassen sind. Es war das sogenannte literarische Erbe vergangener Jahrhunderte, das ihm solche Rekonstruktion ermöglichte - und von daher rührt die große Liebe zu dieser alten Literatur und vermutlich auch die ungeheure Produktivität von Lukács, sie war geradezu existentiell notwendig. Noch seine späte Ästhetik und seine Ontologie des gesellschaftlichen Seins sind im Grunde Extrapolationen dieser Liebe: ihre Kategorien verdanken sie weit weniger den Analysen von Karl Marx als den Novellen von Gottfried Keller.
Im Moskauer Exil hat auch Lukács, der selbst einige Zeit inhaftiert wurde, an der Denunziation und Verfolgung einzelner Genossen und Kollegen mitgewirkt. Nach 1945, und vor allem seit 1956 konnte er dann - im Unterschied zu Fischer und in gewisser Weise durch die ungarischen Verhältnisse erzwungen - eine größere Distanz zum Politischen gewinnen, die ihn schließlich vor den ärgsten Zugeständnissen des Eurokommunismus bewahrt haben dürfte. Vielleicht sind hier aber auch die frühen Erfahrungen aus den Tagen der Oktoberrevolution - als das "Absterben des Staats" noch als kommunistisches Ziel erkennbar war - noch einmal und in eher unbewußter Form wirksam geworden.
Vermutlich aus dieser Distanz heraus konnte Lukács über die Wendung zur Stalinschen Politik klarer reflektieren als Ernst Fischer. In jenem Schlußkapitel seiner Autobiographie, das Fischer am letzten Lebenstag niedergeschrieben hat und in dem er darüber nachdenkt, warum er einst Kommunist geworden und geblieben ist, erwähnt er den Faschismus bzw. Nationalsozialismus mit keinem Wort - als ob die Österreichideologie der Nachkriegsära ihm alle Begriffe dafür ausgetrieben hätte. In dem autobiographischen Interview, das István Eörsi mit dem sterbenden Lukács gemacht hat, findet sich hingegen das zentrale Motiv, ohne das Werk und Leben von Intellektuellen wie Ernst Fischer oder Georg Lukács nicht begreifbar sind: "daß in dieser Zeit die wichtigste Frage die Vernichtung Hitlers war. Hitlers Vernichtung war vom Westen nicht zu erwarten, sondern nur von den Sowjets. Und Stalin war die einzige existierende Anti-Hitler-Macht." Es ist das ein Motiv, das einem als Nachgeborenem das Urteil über den Stalinismus so schwer wie nur möglich macht. Und das ist gut so. Solange die Voraussetzungen des Nationalsozialismus nicht getilgt sind, können wir hier zu keinem wie auch immer abschließenden Urteil kommen.
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