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Das Böse ist nicht das Böse.

Über die Perfidie, im Weltpolizisten das Kapital zu identifizieren.

von Gerhard Scheit

(Jungle World, 2.10.2001)

 
Der Gemeinschaft der Patrioten, die sich nun um Stars and Stripes und CNN versammelt, hält man vor, daß sie - irrational wie sie ist - vom selben "Bösen" ausgehe, wie mit umgekehrtem Vorzeichen die islamistische Terrorbande; daß sie nicht selbstkritisch das Elend der "Globalisierung" einsehe, auf den der Terror als eine "Verzweiflungstat" reagiere, und wofür sie also letztlich doch selbst irgendwie verantwortlich sei.
Und schon ist man mit den Selbstmordattentätern durchaus in der Form einig, in der die antikapitalistischen Inhalte gedacht werden - darin, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu personalisieren und auf diese projektive Art moralisch zuzurichten. One World heißt demgemäß, diese eine Nation unterdrücke die anderen, so wie ein Mensch einen anderen. Umso unheimlicher die heimliche Schadenfreude über den Schlag gegen den Unterdrücker: Sie will die eigene Moral und ihre Voraussetzungen nicht wahrhaben. Wer dem anderen vorwirft, vom Bösen zu sprechen, tut es selber umso perfider.
Es beginnt damit, eine eigene Position außerhalb der Totalität zu suggerieren (und was ist das Gerede von der Globalisierung anderes als das Nachäffen der Totalität aus einer Distanz, die niemand hat). Denn so ist bereits verfehlt, was sie ausmacht: daß es einen solchen Standpunkt gar nicht gibt. Wer ihn für sich automatisch in Anspruch nimmt, ist zu ihrer Kritik schon nicht mehr fähig. Natürlich ist die islamistische Ideologie und ihr Terror nur die Kehrseite der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Zivilisation. (Und die Linken kommen jetzt allerorten mit dieser banalen Einsicht wie mit dem Ei des Columbus daher.) Aber daraus zu folgern, daß alles einerlei wäre, daß Differenzen und Gegensätze von jenem Ganzen ausgelöscht werden, an dem man selbst keinerlei Anteil hätte, ist das Gegenteil von Kritik: Dialektik als Tautologie, abstrakte Negation. Sowenig die postfaschistische Epoche einen Bruch mit dem Nationalsozialismus vollzogen hat, sowenig hat sich hier an der Notwendigkeit geändert, noch im unwahren Ganzen Partei zu ergreifen und zugleich in diesem Zwang das Unwahre zu erkennen. Allein in dieser bestimmten Negation wird das Bewußtsein gerettet, daß es einmal anders sein könnte.
Die Frage stellt sich allerdings, in welcher Form heute auf bewußte und wirkungsvolle Weise Partei zu ergreifen überhaupt möglich ist. Der Schutz potentieller Opfer des antisemitischen Terrors ist fraglos das oberste Kriterium. Ihm Rechnung zu tragen und sich dabei an linken Stammtischen in die Entscheidungsgremien der USA hineinzuversetzen, um über sinnvolles politisches und militärisches Eingreifen nachzudenken, entspricht der realen Paradoxie, ein Linker in Deutschland, in Europa, zu sein. Im selben Maß ist das überwältigende Bedürfnis spürbar, die eigene Ohnmacht zu verdrängen.
Aber was wiegt das gegen den Wahnsinn, der das Kapital in Gestalt der USA und der Juden verkörpert - und dem also an welchem Stammtisch auch immer, entgegengetreten werden muß. "Die verwundete Bestie brüllt", mailte triumphierend die "Antiimperialistische Koordination" aus Wien kurz nach den Attentaten. Das Beileid für die "unschuldigen Opfer" wird immer nur ausgesprochen, um den Nachruf dann doch mit: Jedem das Seine zu beenden.
Wie in der übelsten Totalitarismustheorie werden in der spontan wiederbelebten Szene aus Antiimperialismus und Friedensbewegung die weltweiten Hungertoten mit den Attentatsopfern von New York aufgerechnet. Moralische Entrüstung und mörderischer Zynismus gehen so blitzartig ineinander über, als wollte man sich in die Psyche der Selbstmordattentäter versetzen. Wer die globale militärische Herrschaft innehat, wird als globaler Ausbeuter identifiziert; "Symbole" wie das World Trade Center werden für die Sache genommen; damit die abstrakte Herrschaft, an der die einen zugrunde gehen und die anderen profitieren, ein Gesicht bekommt und eine Adresse, statt so unerträglich abstrakt zu erscheinen wie sie ist; damit das Kapital nicht mehr als ein automatisches Subjekt - hier müßte man nämlich wirklich verzweifeln und wahre Verzweiflungstaten verüben -, sondern als ein moralisches Subjekt sich darstellt, das man - wie auf einem internationalen Militärgerichtshof - beschuldigen und bestrafen, an dessen Demütigung man zumindest seine stille Freude haben kann.
Wo es um den Weltpolizisten geht, wirft man mit Ingrimm die Frage staatlicher Gewalt auf, nicht so beim vertrauten Polizisten um die Ecke - beim nationalstaatlichen Freund und Helfer. Wird doch dieser letztlich als Alternative zum Kapital affirmiert, während man bei jenem dingfest machen möchte, was sonst nur unfaßbar erscheint. Und mit journalistischer Leichtigkeit läßt sich nachweisen, daß die USA selber einstmals Saddam Hussein aufgerüstet haben; daß ausgerechnet die CIA jene einstigen "Freiheitskämpfer" gegen die Sowjetunion unterstützt, geschult und mit Raketen ausgerüstet hat, aus deren Kreisen die Selbstmordattentäter von heute stammen dürften. Hier wird es objektiv zur Farce, wenn der US-Präsident damit droht, alle Unterstützer der Terroristen auszulöschen, müßte er doch zuallererst seinen eigenen Geheimdienst auslöschen. Und die mörderische Farce wird sich vermutlich in dem erklärten "Krieg gegen den Terrorismus" fortsetzen: wenn es hier einerseits am unbedingten Willen zur Totalität, zur selbstlosen allseitigen Vernichtung mangelt, so existiert andererseits auch keine Konstellation wie im Zweiten Weltkrieg, die einem solchen Willen, der heute als Selbstmordattentat existiert, entgegengesetzt werden könnte. Die "unendliche Gerechtigkeit" der USA bleibt - ganz unabhängig, wieviele Tote es geben wird - eine halbe Sache, und mit dem bekannten Bumerang-Effekt, vor allem aber mit einer Gefährdung Israels, ist unmittelbar zu rechnen. Darin aber bereits das Ganze zu sehen, heißt, den lachenden Dritten übersehen - heißt, sich selbst unsichtbar machen.
Wer in den Juden oder Israel das Kapital personifiziert, ist Antisemit. Wer im Weltpolizisten USA das Kapital verkörpert, steht - ausgesprochen oder unausgesprochen - auf deutschem Standpunkt. Beides suggeriert die Möglichkeit, mitten im Kapitalismus zugleich jenseits des Kapitalismus zu sein. In dieser Projektion konstituiert sich Volksgemeinschaft: ein "Subjekt", das die Krise dessen exekutiert, was in Wahrheit nicht verkörpert werden kann.
Darum der doppelte Boden im Verhältnis zu den US-Amerikanern, die man ebenso als Projektionsfläche wie als Bündnispartner braucht. Ohne sie - so Schirrmacher - wären wir "unglücklicher" (Bild-Zeitung 15.9.2001), mit ihnen sind wir es auch.
Zum Standortvorteil Deutschlands gehört eben das Zerrissensein in der Einheit, es ist ihr dynamisches Moment: Der offizielle Bündnispartner ist weiterhin US-Amerika, der andere aber, der inoffzielle Hilfsvolksgenosse, wie er sich nicht nur aus der Vergangenheit des Dritten Reichs, sondern auch aus der neuen Konkurrenzsituation mit US-Amerika selbst ergibt, ist der islamistische Antiamerikanismus. Von dem einen fühlt man sich gedemütigt, vor dem anderen weiß man sich selbst nicht ganz sicher - so wechselt ständig der Blickpunkt der Deutschen, changiert immerzu zwischen rassistischem Antiislamismus und antisemitischem Antiamerikanismus.
Wenn Deutschland heute so gerne als Friedensengel erscheint, dann fliegen ihm die Sympathien allerdings regelmäßig von den Gotteskriegern zu; sie gelten "den Deutschen", nicht unbedingt ihrer Regierung, soweit sie mit den Amerikanern gemeinsame Sache zu machen scheint. (Hier wird zwischen Volk und Führung womöglich ähnlich unterschieden wie etwa im Fall Saudi-Arabiens.) Denn der größte Selbstmordterrorist war die deutsche Volksgemeinschaft: an ihm orientiert sich bewußt oder unbewußt alles, was heute gegen die USA und Israel kämpft, um gleichzeitig mit und gegen den Kapitalismus zu kämpfen. Die Geschichte dieses Selbstmordattentäters ist, wie jedes Kind weiß, eine kapitalistische Erfolgsgeschichte: das Wunder gibt es nur in der Vernichtung, das hat Deutschland gelehrt. Und allein aus dieser rational nicht faßbaren Geschichte läßt sich heute noch lernen. Der Vernichtungswahn der heutigen Selbstmordattentäter ist die Säkularisierung der islamischen Religion unter dem Gesichtspunkt von Auschwitz.
Die islamistische Ideologie des Selbstmordattentats eignet sich Heidegger gewissermaßen inkognito an. ("Heidegger für Analphabeten", formulierte die Bahamas-Redaktion - darum aber, wie sie es tut, Militärschläge pauschal auf "islamische Zentren" zu begrüßen, bedeutet wirklich Mein Kampf mit dem Koran zu verwechseln.) Die deutsche Öffentlichkeit indessen ist sorgsam bemüht, jeden Zusammenhang mit der eigenen Herkunft auszublenden. So besteht großer Bedarf nach deutschen Islam-Experten: um in endlosen Diskursen darzulegen, in welchem Verhältnis die islamistische Ideologie zum wahren Islam stehe, und nur ja nicht die kurze Frage aufkommen zu lassen, in welchem Verhältnis sie zur deutschen stehe. Es könnte sich sonst erweisen, daß die religiöse Vorstellung von dem Lohn, den der Märtyrer laut Koran sofort nach dem Tod erhalte und als eigentliche Motivation der Selbstmordattentäter gilt, nur noch ein Ornament des Vernichtungswahns, des reinen "Seins zum Tod" ist. Dieses benötigt nicht so sehr islamische Traditionen als einen metaphysischen Feind. Und auch hier hat der größte, der kollektive Selbstmordattentäter alles vorgemacht.
Wenige Stunden nach den Anschlägen in New York sagte eine Frau in einer Wiener Bücherei voller Mitleid mit den Opfern: "Das haben sie den Juden zu verdanken." Und wenn sie sich in Zukunft von ihnen nicht distanzieren, dann sind sie eben selber welche.

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